Freitag, 21. August 2009

106: Röhrenrechner

Seit 13 Tagen ist in Berlin die U-Bahn-Linie 55 in Betrieb. Sie verbindet den Hauptbahnhof mit dem U- und S-Bahnhof Brandenburger Tor (ehemals Unter den Linden), mit einem Zwischenhalt »Bundestag«. Es handelt sich bei der kurzen Pendellinie um das zukünftige Endstück der U5, die einmal vom Alexanderplatz bis zum Hauptbahnhof durchfahren soll.

Wie die gewaltigen neuen Fernbahnhöfe (Berlin Hbf, Südkreuz, Gesundbrunnen), der Umbau des Ostkreuzes (siehe Prellblog 2), die zahllosen Sanierungen, Lückenschlüsse und Umbauvorhaben bei U- und S-Bahn und die zaghaften Ausbauten der Straßenbahn gehört die Verlängerung der U5 in den Kreis der Wiedervereinigung und Erneuerung von Berlins Schieneninfrastruktur, einer Masse von Bauvorhaben, die sich nahezu alle durch verkehrtechnische Komplexität, härteste politische Debatten und bautechnische Herausforderungen auszeichnen. Der Ostkreuz-Umbau ist dafür stets mein Paradebeispiel, zieht er doch die Umlegung einer Straßenbrücke, eines U-Bahnhofs und diverser Straßenbahntrassen, eine architektonische Wiederverwertung denkmalgeschützter Bauten und Gebäudeteile sowie die Neueinrichtung eines Fernbahnhofs mit sich. Aber auch der Hauptbahnhof war, mit den endlosen Bautaucherorgien zur Errichtung seiner Tiefbauten (inklusive der U55-Endstation), der vorhergehenden, begleitenden und nachfolgenden Diskussion sowie dem Nebenschauplatz der Abstufung des Bahnhofs Zoologischer Garten zum Regionalbahnhof, nicht von schlechten Eltern. Ich erinnere mich da noch an Prophezeiungen, Berlin Hbf würde als glänzende und menschenleere Investitionsruine enden und an Vorschläge, ihn gleich wie das nie eingeschaltete Kernkraftwerk Kalkar in einen Freizeitpark umzubauen, da ihn ja doch »niemand brauche«.
Auch die U55 »braucht niemand«. Wenn man WWW-Kommentatoren und Lokalzeitungskolumnen folgt, haben die allermeisten Verkehrsbauwerke diesen Status »braucht niemand«, vielleicht abgesehen von der Umgehungsstraße, die sich der Chefredakteur auf seinen Pendelweg wünscht. Dass es fixe Verkehrsbedürfnisse gäbe, über die man punktuell und objektiv entscheiden könnte, dass ein Verkehrsbauwerk »jemand« oder »niemand« braucht, ist zwar ein Märchen (siehe auch Prellblog 27). Allerdings kratzt man sich, wenn es um eine U-Bahn-Strecke von weniger als zwei Kilometern Länge geht, die über 300 Millionen Euro gekostet hat und deren Bau sich, weil von keiner Stelle wirklich enthusiastisch angetrieben, auf fast anderthalb Jahrzehnte erstreckte, doch ein wenig am Kopf, könnte man doch mit wesentlich weniger Geld und in kürzerer Zeit zum Beispiel Aachen, Münster oder Wiesbaden ein gediegenes Straßen- und Regionalstadtbahnnetz spendieren (und diese Städte haben so etwas bitter nötig).

Der Hintergrund, warum Berlin mit der U55 eine wahnsinnig teure Bauvorleistung für eine U-Bahn-Verlängerung geschaffen hat (immerhin mit sehr ansprechenden Bahnhöfen, von denen einer als Teilungsgedenkstätte mitgenutzt wird), während anderswo Projekte, die viel mehr Fahrgäste auf die Schiene bekommen könnten, vor sich hin dümpeln, ist nicht nur der Hauptstadtstatus, und dass hier, wie so oft in den letzten Jahren, ein lange verschlepptes Projekt aus dem Vereinigungsboom zum Abschluss kommt. Es geht auch um Fördermittel und Planungsbeschlüsse, die man nicht verfallen lassen möchte; darum, dass der Bund als Stakeholder seinen politischen Willen zum Bau der Strecke durchsetzen wollte und als naturgemäß stärkster Akteur dies auch geschafft hat. Anderswo gibt es keinen politischen Willen oder die Beteiligten sind sich nicht einig; deswegen ist Wiesbaden nach wie vor die größte Stadt Deutschlands ohne schienenbasiertes Verkehrssystem, obwohl man schon seit Jahr und Tag eine Anbindung an die Mainzer Straßenbahn hätte haben können. Währenddessen zogen Karlsruhe und Kassel beneidenswerte Regionalstadtbahnsysteme (siehe Prellblog 25) hoch.

Verkehrsbauten, insbesondere wenn viel Tiefbau dabei ist, sind immer unglaublich teuer und meistens viel teurer als geplant (jedes technische Großprojekt überschreitet das Budget um einen hohen zweistelligen Prozentsatz, es gibt nur wenige Ausnahmen). Trotzdem werden sie meistens irgendwann fertiggestellt, gerade weil sie so unglaublich teuer sind, und wenn sie stehen, wird über Kosten erst recht nicht mehr geredet. Da es sich bei Infrastruktur um klassisch investive und nicht konsumptive Staatsausgaben handelt, hält sich der potenzielle volkswirtschaftliche Schaden stark in Grenzen oder muss mühevoll herbeigerechnet werden. Auch wenn es etwas frivol klingen mag: Geld spielt in einem gewissen Sinne keine Rolle, wenn der Beschluss erst einmal gefallen ist. Es wird gebaut, was sich politisch und juristisch bauen lässt, relativ unabhängig vom Preis. Die öffentliche Debatte über teure Verkehrsprojekte wäre eventuell effektiver, wenn man weniger über Kostensteigerungen und Budgethöhen und mehr über Projektprioritäten, verkehrstechnischen Sinn, architektonische Schönheit und vor allem Steigerung von Lebensqualität diskutierte.
Man frage mich aber bitte nicht, ob die U55 dann noch gebaut worden wäre. Am Ende ist Mögliche-Welten-Semantik etwas für die Philosophie, und die soll mich hier nicht über Gebühr beschäftigen.

Bild: Gregor Fischer bei Flickr (Details und Lizenz)

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