Montag, 10. August 2009

105: Eine Wucht

Für heutige Verhältnisse sind alte Bahnhofsgebäude oft weit überdimensioniert. Wartesäle verschiedener Klasse, Kohlenkeller, Dienstwohnungen, Gepäck- und Postabfertigungsräume - aus den großen ungenutzten Räumen in den häufig schlecht erhaltenen Bauten etwas zu machen, ist nicht immer einfach. Es gibt aber Bahnhöfe, deren Gebäude selbst im historischen Vergleich ungewöhnlich groß sind.

Mein persönlicher Spitzenreiter ist dabei ein klobiges Neorenaissancebauwerk auf trapezförmigem Grundriss, zwischen den Gleisanlagen eines Keilbahnhofs, mit fünfzig Meter langen, zweieinhalb Stockwerke hohen Längsfassaden von je zwei mal sieben Rundbogenachsen, die von einem gewaltigen Bogendurchgang zweigeteilt werden, der durchaus an Triumphbögen oder auch die berühmte Galleria Vittorio Emanuele II in Mailand und ähnliche »weltliche Kathedralen« denken lässt - und das Ganze für einen kleinen niedersächsischen Ort mit ein paar tausend Einwohnern. Die Rede ist vom Bahnhof Kreiensen, erbaut 1887 bis 1889. Wenn ich mich recht erinnere, gibt es eine Geschichte, die den reich ornamentierten (Bild) Prachtbau als Kulisse für ein Treffen zwischen deutschem Kaiser und russischem Zar erklärt, harte Belege dafür habe ich aber nicht finden können.

Mittlerweile hat Kreiensen seine Funktion als prominenter Eisenbahnknotenpunkt nahezu ganz eingebüßt, auch wenn die Anbindungen vielleicht besser sind als zuvor, von den üblichen Beschwerden über die Einstellung von IC-Halten einmal abgesehen. Der repräsentative Bau ist jedenfalls geblieben, und er beherbergt, soweit ich weiß, nahezu nichts.
Was könnte man hineintun?

Der vor allem durch sein hohes Dach äußerst geräumige Marburger Bahnhof wird nach langen Diskussionen (unter anderem sollten einmal Wohnungen hinein) nun in den oberen Ebenen von einer kommunalen Wohnungsbaugesellschaft als Gewerbeimmobilie ausgebaut. Das kann man nicht überall machen; anderswo sind Büchereien eingezogen (beispielsweise in Erzhausen) oder die Gemeindeverwaltung (so gesehen in Cölbe), sehr oft auch Lokale (Staudernheim, Kelsterbach, usw. usw.). Was aber in einen Bahnhof von Kreienser Format hineinpassen könnte, ohne hinter der Fassade lächerlich zu wirken wie es z.B. ein Ein-Euro-Markt täte, ist mir nicht ganz klar.
Zu überlegen ist auch, warum die Nutzung als Bahnhof, die ja eine ziemlich profane ist, anscheinend keinem noch so gewaltigen Bau unangemessen erscheint. Was verleiht der Beförderung auf Schienen diese Würde? Und wann hat es aufgehört? Hat es mit der Neigung der deutschen Öffentlichkeit zu tun, großzügige Bauten jeder Art als protzig zu beschimpfen? Und war das früher anders?

Bild: Nils Bremer bei Flickr (Details und Lizenz)

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