Donnerstag, 22. März 2007

2: Theseus' Bahnhof

Berühmte und schöne Bahnhöfe sind nicht immer die, wo am meisten los ist. Die Rangliste in Europa wird zum Beispiel nicht von einer glitzernden Verkehrskathedrale wie Milano Centrale angeführt, sondern von Clapham Junction, einem eher unspektakulären Umsteigebahnhof im Südwesten der Londoner Innenstadt. Weltweit am stärksten frequentiert ist Shinjuku Station in Tokio, ein gigantisches, größtenteils unterirdisches Gewirr aus Bahnsteigen und Ladenzeilen, das äußerlich mit den schöneren Bahnhöfen Japans nicht mithalten kann.
In Deutschland gibt es Vergleichbares: Berlin Ostkreuz, wo sich Stadtbahn und S-Bahn-Ring schneiden, zählt täglich bis zu 150.000 Fahrgäste, mehr als zum Beispiel der Nürnberger Hauptbahnhof. Dabei halten dort ausschließlich S-Bahnen, keine sonstigen Nahverkehrs- oder gar Fernzüge (also nichts von dem, was in Berlin unter »Fernbahn« zusammengefasst wird). Der Bahnhof ist eine historisch gewachsene Ansammlung windschiefer Bahnsteige, löchriger Überdachungen, krummer Treppen und baufälliger Brücken um eine Kombination aus Kreuzungs- und Verzweigungsbahnhof herum.
Seit seinem Bau 1882 gab es viele vergebliche Anläufe, das Ostkreuz in einen befriedigenden Zustand zu bringen. Der neueste scheint nun endlich ernst zu werden. Die Planfeststellung steht seit dem 4. Dezember 2006: Das ewige Provisorium soll seinen Grundriss völlig ändern, dazu eine Gleishalle, kurze Wege, Rolltreppen, Aufzüge, Eingänge nach allen Richtungen und einen ordentlichen Bahnhofsvorplatz bekommen, alles Dinge, die es bis jetzt nicht hatte. Nebenbei wird es dadurch behinderten- und kinderwagengerecht. Ganz so wie das Schiff des Theseus, bei dem am Ende keine einzige Planke mehr die alte war, wird das Ostkreuz allerdings nicht enden; die denkmalgeschützten Elemente sollen beim Wiederaufbau neu verwendet werden.
Deutlich wird hier, welche Ausmaße vermeintlich harmlose Bahnhofssanierungen annehmen können, wenn sie in wichtigen städtischen Knoten passieren. Da man sich eine Vollsperrung nicht erlauben kann, muss der Umbau bei Betrieb stattfinden und soll so etwa zehn Jahre dauern. Um das Umsteigen zu erleichtern und die allgemeine Verkehrsanbindung des Stadtteils zu verbessern, werden die Gleisverbindungen in weitem Umkreis (bis hin zum Ostbahnhof) umgekrempelt und Fernbahnsteige für den Nahverkehr hinzugebaut. Alleine die Bauvorbereitungen dauern jetzt schon seit über einem Jahr an. Dabei hat es noch keinen offiziellen Spatenstich gegeben.
Man rechnet mit Baukosten von über vierhundert Millionen Euro; damit handelt es sich um eines der zehn größten Bahnbauprojekte Deutschlands (siehe auch Prellblog 21).

Nach Angaben der DB werden geschätzte 230.000 Fahrgäste am Tag den neuen Bahnhof benutzen. Wenn man sich das enorme Fahrgastwachstum der Berliner S-Bahn anschaut (fast 20% in den letzten beiden Jahren), ist das durchaus realistisch. Die Eisenbahn wächst, und manchmal muss man dafür eben viel Geld in die Hand nehmen.

Wer verfolgen möchte, wie am Ostkreuz eine Planke nach der anderen ausgewechselt wird -hoffentlich, ohne dass es dabei untergeht-, kann das beim Ostkreuzblog tun, das ab sofort in der Linkliste aufgeführt ist.

Bild: Túrelio bei Wikimedia Commons (vollständiges Foto, Details und Lizenz)

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