80: Zügig vorbei
Eine Binsenweisheit der Bahntechnik ist, dass an einer Stelle in einem Gleis immer nur ein Zug fahren oder stehen kann; daher auch die in Prellblog 52 und 53 beschriebenen Sicherungsmaßnahmen. Trotzdem ist das System, vor allem auf Hauptstrecken, längst nicht so starr, dass da nur wie auf einer Perlschnur die Züge in der Reihenfolge hinten herauskommen, wie sie vorne hereinfahren. Vor allem auf Strecken, wo Züge mit stark voneinander abweichenden Geschwindigkeiten verkehren, wäre das ja auch gar nicht zu machen.
Züge müssen sich also irgendwie überholen können. Dazu braucht man im Regelfall ein Gleis, so lang, dass ein Zug hineinpasst, das mit zwei Weichen ans Hauptgleis angeschlossen ist; sprich: einen Bahnhof (siehe Prellblog 11). Es gibt, vor allem an Neubaustrecken, eigene Überholbahnhöfe, die gar keine Bahnsteige haben. Der Zug, der überholt werden soll, wird dann vom Stellwerk in dieses Überholgleis geleitet, und der andere Zug rauscht dann irgendwann vorbei. Besonders gut beobachten kann man das, wenn man mit dem Nahverkehrszug von Frankfurt nach Fulda fährt, was immer mit einigen Überholungen durch ICE verbunden ist. (Das Überholgleis heißt somit übrigens, wie man sieht, nicht deswegen so, weil Züge damit überholt werden, sondern weil Züge sich darin überholen lassen.)
Die Anzahl und die Anordnung der Überholgleise an einer Strecke entscheidet ganz erheblich über ihre Kapazität. Außerdem sollten sie natürlich immer mindestens so lang sein wie der längste Zug, der auf der Strecke verkehren darf; dies ist einer der Gründe dafür, dass es genormte Höchstlängen gibt (Güterzüge 700, Personenzüge 400 Meter).
Da es mittlerweile einen Pilotversuch mit 835 Meter langen Güterzügen gab und mittlerweile nicht mehr nur im Rahmen ominöser »Innovationswettbewerbe«, sondern allen Erstens an der Einführung des 1000-Meter-Güterzuges gearbeitet wird, liegt die Frage nahe, ob das das Verlängern oder Neubauen Dutzender bis Hunderter Überholgleise bedeutet. Eventuell ja; eventuell auch nicht. Man könnte einmal grundsätzlich den längeren Zügen Vorrang geben und die kürzeren Züge an die Seite nehmen, was allerdings in dem sehr wahrscheinlichen Falle etwas kontraproduktiv sein könnte, wenn diese kürzeren auch die schnelleren Züge sind. Oder man kann einfach das Gegengleis nutzen.
Diese schicke Form der Kapazitätssteigerung, die potenziell Überholungen durch beliebig lange Züge ermöglicht, hört auf den Namen Gleiswechselbetrieb (wenn auch offiziell mittlerweile »Befahren des Gegengleises mit Hauptsignal und Signal Zs 6 ständig eingerichtet«). Dabei nutzt man Gleisverbindungen zwischen den beiden Streckengleisen, wie sie in den meisten Bahnhöfen oder auch in speziellen Überleitstellen auf freier Strecke existieren, und lässt einen Zug einfach mal links liegen. Meist wird der langsamere Zug aufs Gegengleis genommen, so dass der schnellere beim Vorbeifahren nicht durch die Geschwindigkeitsbegrenzung in den Weichenverbindungen gehindert wird. Sind bei dieser Art von Überholung beide Züge in Bewegung, spricht man von »fliegender Überholung«.
Selbstverständlich riskiert man dabei keine Kollisionen; einem eventuellen Gegenzug wird mit Abstand Halt signalisiert und auch der überholte Zug muss am Vorsignal vor der Weiche, die den überholenden auf das rechte Gleis zurückführt, die Bremsung einleiten, wenn der überholte zu diesem Zeitpunkt noch nicht weit genug durchgefahren ist. Gegebenenfalls sind auch entsprechende Schutzweichen gestellt. Der ganze Vorgang ist also durchaus aufwändig und raumgreifend, hat aber den Vorteil, dass keine Züge bis zum Stillstand abgebremst und wieder angefahren werden müssen.
Was man riskiert, ist nur das mulmige Gefühl bei Reisenden, die minutenlang aus ihren Fenstern einen anderen Zug zum Greifen nah sehen können und sich fragen, was denn so lange mit den Zügen aus der anderen Richtung passiert. Mitunter stehen die ihrerseits wieder in Überholgleisen: Eisenbahndisposition ist ein kunstfertiges Weben.
Bild: »Golf Bravo« bei Wikimedia Commons (Details und Lizenz)
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