144: Geneigtes Publikum
Wie eine neue Eisenbahnstrecke trassiert wird, ist von zahlreichen Parametern abhängig, zuvörderst darunter die maximale Längsneigung oder Gradiente (vulgo Steigung) und der minimale Bogenradius. Je nachdem, welche Fahrzeuge eine Strecke später mit welchen Geschwindigkeiten befahren sollen, können diese Werte sehr unterschiedlich ausfallen: Straßenbahnen können geradezu »um die Ecke fahren« und kommen mit Kurvenradien um die 20 Meter aus; Hochgeschwindigkeitsstrecken haben gerne minimale Kurvenradien jenseits der 5000 Meter. Bei der Längsneigung kann man auf Strecken, die zum Beispiel nur von S-Bahnen, also verhältnismäßig leichten und an vielen Achsen motorisierten Fahrzeugen, befahren werden, durchaus Werte um die vier Prozent bewältigen, für den schweren Güterverkehr sollte es aber nicht mehr als ein Prozent sein.
Eine breite Öffentlichkeit wurde mit diesem Thema zwar seit Jahren immer wieder in den Standard-Artikeln der Presse zu den wirklichen oder angeblichen Unzulänglichkeiten der deutschen Eisenbahn-Netzplanung konfrontiert, aber in den letzten Wochen in verstärkter Form, und zwar, wie könnte es anders sein, im Zusammenhang mit den »Schlichtungsgesprächen« zu Stuttgart 21. Zur Erinnerung: Das ganze umstrittene Bahnhofs-Umbauprojekt ist letztlich nichts anderes als eine »große Lösung« für die Einbindung der geplanten Neubaustrecke nach Ulm in den Knoten Stuttgart. Über Jahre war häufig die Rede davon, selbst die Stuttgart-21-Gegnerschaft habe kein Problem mit dieser Strecke, lediglich die Anbindungsvariante lehne sie ab. Es gibt denn auch tatsächlich das eine oder andere Alternativkonzept (z.B. »Kopfbahnhof 21«, worunter sich aber mitnichten etwas Durchgeplantes verbirgt, sondern eher eine Art Bündel von Ausbauideen).
Mittlerweile hat sich aber die Diskussion schleichend verlagert: Bei der »Schlichtung« wurde lang und breit über die grundsätzliche Rechtfertigung der Neubaustrecke geredet. Es geht längst nicht mehr nur um die Anbindung; die Gegnerseite möchte den Streckenbau insgesamt zu Fall bringen.
Also wird der große Klassiker, die Gradienten-Debatte, neu inszeniert. Interessant ist, dass sich dabei die Positionen weitgehend umgekehrt haben.
Noch vor wenigen Jahren führten KritikerInnen der deutschen Eisenbahnplanungen Klage über die ungeheuer aufwändige flache und weit geschwungene Trassierung der ersten Neubaustrecken Hannover-Würzburg und Mannheim-Stuttgart (maximale Längsneigung 1,25 %). Sie forderten eine für Güterzüge ungeeignete, dafür aber einfacher zu bauende Trassierung mit größeren Neigungen nach dem Vorbild französischer Schnellstrecken. Zwischen Köln und Frankfurt wurde dies dann tatsächlich realisiert (maximale Längsneigung 4 %, wesentlich engere Kurvenradien). Für die Strecke Stuttgart-Ulm ist entsprechend eine maximale Gradiente von 3,5 % geplant, was nun wieder dafür kritisiert wird, dass die Strecke für schwere Güterzüge nicht befahrbar sein wird - also genau dafür, was man eigentlich für zukünftige Streckenneubauten eingefordert hatte.
Dabei ist für Stuttgart-Ulm zumindest eine Nutzung durch leichte Güterzüge (bis 1000 Tonnen) mit Scheibenbremsen eingeplant. Völlig unrealistische Rahmenbedingungen sind das nicht: Containerzüge sind in Deutschland selten schwerer als 1000 Tonnen, und scheibengebremste Containertragwagen existieren. Dass die Kapazität des Streckenzugs Stuttgart-Ulm für schwere Güterzüge durch den Neubau nicht zunimmt und das Betriebshindernis, dass Züge auf der Altstrecke nachgeschoben werden müssen, nicht wegfällt, stimmt natürlich ebenfalls.
Was die ganze Debatte erkennen lässt, ist hauptsächlich, dass die vielgescholtene echte oder vermeintliche Konzeptlosigkeit der deutschen Bahnpolitik auch vor deren KritikerInnen nicht halt macht. An den Güterverkehr hat man jahrelang nicht geglaubt; jetzt auf einmal ist nichts mehr wichtiger, und in den Reihen der »alternativen Verkehrspolitik« fordert man die Streichung beziehungsweise den Abbruch riesiger, seit Jahrzehnten voranmahlender Projekte, um möglichst energisch den Ausbau von Nord-Süd-Achsen für schwere und schwerste Güterzüge voranzutreiben, dass die alte Bundesbahn ihre wahre Freude daran gehabt hätte. Denn die hat ihre Neubaustrecken ursprünglich ja einmal hauptsächlich für den Güterverkehr geplant - der ICE-Verkehr war in erster Näherung eine Art willkommenes Abfallprodukt. Jetzt haben sich die Vorzeichen geändert; die Grundsituation, dass man immer heute die Planungen von gestern umsetzen muss, in der Hoffnung, damit die Verkehre von morgen bewältigen zu können, wird aber immer dieselbe bleiben; und so wird man auch damit, dass alles, was gebaut wird, falsch ist und zu spät kommt (siehe Prellblog 27), weiter leben müssen.
Bild: »Bigbug21« bei Wikimedia Commons (Details und Lizenz)
Eine breite Öffentlichkeit wurde mit diesem Thema zwar seit Jahren immer wieder in den Standard-Artikeln der Presse zu den wirklichen oder angeblichen Unzulänglichkeiten der deutschen Eisenbahn-Netzplanung konfrontiert, aber in den letzten Wochen in verstärkter Form, und zwar, wie könnte es anders sein, im Zusammenhang mit den »Schlichtungsgesprächen« zu Stuttgart 21. Zur Erinnerung: Das ganze umstrittene Bahnhofs-Umbauprojekt ist letztlich nichts anderes als eine »große Lösung« für die Einbindung der geplanten Neubaustrecke nach Ulm in den Knoten Stuttgart. Über Jahre war häufig die Rede davon, selbst die Stuttgart-21-Gegnerschaft habe kein Problem mit dieser Strecke, lediglich die Anbindungsvariante lehne sie ab. Es gibt denn auch tatsächlich das eine oder andere Alternativkonzept (z.B. »Kopfbahnhof 21«, worunter sich aber mitnichten etwas Durchgeplantes verbirgt, sondern eher eine Art Bündel von Ausbauideen).
Mittlerweile hat sich aber die Diskussion schleichend verlagert: Bei der »Schlichtung« wurde lang und breit über die grundsätzliche Rechtfertigung der Neubaustrecke geredet. Es geht längst nicht mehr nur um die Anbindung; die Gegnerseite möchte den Streckenbau insgesamt zu Fall bringen.
Also wird der große Klassiker, die Gradienten-Debatte, neu inszeniert. Interessant ist, dass sich dabei die Positionen weitgehend umgekehrt haben.
Noch vor wenigen Jahren führten KritikerInnen der deutschen Eisenbahnplanungen Klage über die ungeheuer aufwändige flache und weit geschwungene Trassierung der ersten Neubaustrecken Hannover-Würzburg und Mannheim-Stuttgart (maximale Längsneigung 1,25 %). Sie forderten eine für Güterzüge ungeeignete, dafür aber einfacher zu bauende Trassierung mit größeren Neigungen nach dem Vorbild französischer Schnellstrecken. Zwischen Köln und Frankfurt wurde dies dann tatsächlich realisiert (maximale Längsneigung 4 %, wesentlich engere Kurvenradien). Für die Strecke Stuttgart-Ulm ist entsprechend eine maximale Gradiente von 3,5 % geplant, was nun wieder dafür kritisiert wird, dass die Strecke für schwere Güterzüge nicht befahrbar sein wird - also genau dafür, was man eigentlich für zukünftige Streckenneubauten eingefordert hatte.
Dabei ist für Stuttgart-Ulm zumindest eine Nutzung durch leichte Güterzüge (bis 1000 Tonnen) mit Scheibenbremsen eingeplant. Völlig unrealistische Rahmenbedingungen sind das nicht: Containerzüge sind in Deutschland selten schwerer als 1000 Tonnen, und scheibengebremste Containertragwagen existieren. Dass die Kapazität des Streckenzugs Stuttgart-Ulm für schwere Güterzüge durch den Neubau nicht zunimmt und das Betriebshindernis, dass Züge auf der Altstrecke nachgeschoben werden müssen, nicht wegfällt, stimmt natürlich ebenfalls.
Was die ganze Debatte erkennen lässt, ist hauptsächlich, dass die vielgescholtene echte oder vermeintliche Konzeptlosigkeit der deutschen Bahnpolitik auch vor deren KritikerInnen nicht halt macht. An den Güterverkehr hat man jahrelang nicht geglaubt; jetzt auf einmal ist nichts mehr wichtiger, und in den Reihen der »alternativen Verkehrspolitik« fordert man die Streichung beziehungsweise den Abbruch riesiger, seit Jahrzehnten voranmahlender Projekte, um möglichst energisch den Ausbau von Nord-Süd-Achsen für schwere und schwerste Güterzüge voranzutreiben, dass die alte Bundesbahn ihre wahre Freude daran gehabt hätte. Denn die hat ihre Neubaustrecken ursprünglich ja einmal hauptsächlich für den Güterverkehr geplant - der ICE-Verkehr war in erster Näherung eine Art willkommenes Abfallprodukt. Jetzt haben sich die Vorzeichen geändert; die Grundsituation, dass man immer heute die Planungen von gestern umsetzen muss, in der Hoffnung, damit die Verkehre von morgen bewältigen zu können, wird aber immer dieselbe bleiben; und so wird man auch damit, dass alles, was gebaut wird, falsch ist und zu spät kommt (siehe Prellblog 27), weiter leben müssen.
Bild: »Bigbug21« bei Wikimedia Commons (Details und Lizenz)
1 Kommentar:
Ist es denn nicht gerade Kennzeichen "alternativer" Politik, daß sie immer das Gegenteil von dem will, was getan werden soll? Anderenfalls wäre sie ja nicht mehr alternativ. ;)
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