74: Unter Druck
Zur Einstimmung heute einmal eine moderne Sage aus meiner Stadt:
Etwa im Jahre 1912 kam eine Bäuerin aus der Schwalm in die Universitätsfrauenklinik nach Marburg, um sich wenige Wochen vor ihrer Entbindung nochmals untersuchen zu lassen. Die Schwalm ist eine Landschaft in Oberhessen, in der die Bäuerinnen bis zur Mitte [des 20.] Jahrhunderts die landesübliche Tracht mit enggeschnürter Wespentaille, mehreren kurzen Röcken übereinander und langen weißen Strümpfen trugen. [...] Der zuständige Arzt stellte nach der Untersuchung zu seiner Überraschung fest: »Sie haben bereits entbunden!« Auf diese Mitteilung hin war die Frau völlig außer sich [...]. Sie sei morgens mit der Kleinbahn nach Marburg gefahren. Allerdings sei ihr auf der Fahrt schlecht geworden, und sie habe für einige Minuten den Abort aufsuchen müssen. Der Arzt fuhr in richtiger Ahnung der Dinge sofort mit dem Fahrrad die Eisenbahnstrecke ab und fand tatsächlich wenige Kilometer von Marburg entfernt das neugeborene Baby unversehrt zwischen den Schienen liegen.Die Bäuerin hatte, festgeschnürt in die Schwälmer Tracht und der Tradition entsprechend ohne Unterwäsche, das Kind auf dem Abort in einer Sturzgeburt verloren. [... D]er automatische Abortunterdeckel muß ebenso wie die Holzschwelle zwischen den Geleisen den Sturz abgebremst haben. (Rolf W. Brednich: Die Maus im Jumbo-Jet. Neue sagenhafte Geschichten von heute. München: C.H. Beck, 1994, Beck'sche Reihe 435, S. 133f.)
Die allermeisten LeserInnen meines Blogs werden noch Eisenbahnwagen kennen, in denen es solche Fallrohr-WCs gibt, auch wenn sie mittlerweile immer rarer werden. Früher gab es gar keine anderen. Die früheste Eisenbahnfahrt, an die ich mich erinnern kann, war übrigens 1984 oder 1985, aber damals galt generell, dass man Zugtoiletten nur in den allerschlimmsten Notfällen benutzte, und ich als Kleinkind hätte am allerwenigsten gedurft. Heute ist das anders - die meisten Zug-WCs sind in halbwegs zivilisiertem Zustand, wenn nicht gerade vandalisiert, und werden oft und gerne benutzt. Ob das mit dem Übergang vom Fallrohr zum Vakuum-WC zu tun hat?
Der Fallrohrabort hatte immer etwas Anrüchiges und Gefährliches, vielleicht, weil man beim Spülen gegebenenfalls ins Schotterbett sehen kann, vielleicht auch, weil es schwierig ist, so ein Ding zu benutzen, ohne darüber nachzudenken, wo die Hinterlassenschaften enden. Dass die Toiletten nur während der Fahrt benutzt werden sollen, trägt zu solchen Reflexionen noch bei. Immerhin bleibt es hierzulande bei der Empfehlung - anderswo, zum Beispiel in Russland, werden die Zugtoiletten in Fernzügen eine Viertelstunde vor dem planmäßigen Halt abgeschlossen und eine Viertelstunde danach wieder aufgeschlossen. Auch und gerade, wenn der planmäßige Halt eine sechsstündige Zollkontrolle ist. In meinem Transsib-Reisebericht ist davon zu lesen.
Das andere Extrem ist es, Fallrohr Fallrohr sein zu lassen und in den großen Bahnhöfen Leute mit Schaufeln anzustellen, die die Fäkalien wegschippen. Angeblich ist das in Frankreich heute noch so.
Mittlerweile hat sich das erstaunlich langweilige, höchstens durch die unerbittliche Gewalt, mit der es jegliche Materie durch seinen Schlund saugt, faszinierende Vakuum-WC durchgesetzt. Eine Pumpe setzt einen Tank unter Unterdruck, beim Spülen wird dieser mit der Schüssel verbunden; danach schaltet sich wieder die Pumpe ein.
Die französischen Fernzüge haben wohl keine Vakuumtoiletten, sondern drucklos spülende Chemie-WCs. Ich habe da keine persönliche Erfahrung, beziehungsweise: falls ich in den französischen Eurocitys und Eurostars, die ich kenne, mal auf die Toilette gegangen sein sollte, erinnere ich mich nicht mehr daran.
Der Grund, nicht mehr das alte Fallrohr, sondern Vakuum- oder Chemie-WCs einzusetzen, ist zumindest bei den schnelleren Zügen nur mittelbar der Komfort. Die Druckwellen bei Zugbegegnungen auf Schnellstrecken bei 160, 200, 250 km/h oder noch höheren Geschwindigkeiten könnten bei offenen WCs durch das Rohr nach innen durchschlagen, gegebenenfalls unter Mitnahme von Spülflüssigkeit und anderen Dingen.
Übrigens: Das Handwaschwasser in Zügen hat, zumindest bei der Deutschen Bahn, entgegen der Warnschilder Trinkwasserqualität. Die Tanks und Armaturen sind aus Kupfer und werden auch wie Trinkwasserinstallationen gepflegt, nur möchte die DB kein Geld für die notwendigen Genehmigungen ausgeben. Die Warnhinweise sind reine juristische Absicherung.
Bild: Tom Taylor (»Tom T«) bei Flickr (vollständiges Bild, Details und Lizenz)
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