Donnerstag, 18. September 2008

65: Grenzenlos systematisch

Eines der erklärten Ziele des Prellblogs ist es ja, einen weiten Begriff von »Eisenbahn« zu Grunde zu legen und den Grenzen, die zwischen verschiedenen Bahnen gezogen werden, ihre Absolutheit zu nehmen. Für mich gibt es letztendlich nur eine Eisenbahnidee, die in vielen Abschattungen implementiert worden ist, was sich in Systemgrenzen äußert, die mal einfacher, mal schwieriger zu überwinden sind.

Nun habe ich über den Durchbruch durch eine solche Grenze, nämlich die zwischen Eisenbahn und Straßenbahn, wie er in Karlsruhe zuerst und zuletzt in Kassel geleistet wurde, bereits geschrieben (Prellblog 25). Auch die heutige Kolumne ist einem geplanten Durchbruch geschuldet: Vorgestern haben der Zweckverband Großraum Braunschweig, die Landesnahverkehrsgesellschaft Niedersachsen und die Deutsche Bahn eine Absichtserklärung zur Realisierung der RegioStadtBahn Braunschweig unterzeichnet. Dies soll hoffentlich noch in diesem Jahr zu Vertragsschlüssen und bis 2013 zur Inbetriebnahme der ersten Baustufe dieses Projekts führen.
Auch hier geht es darum, ein Straßenbahnnetz mit Regionalstrecken der Eisenbahn zu verstöpseln und dadurch für einen vergleichsweise lächerlichen Betrag von 250-300 Millionen Euro ein zirka 200 Kilometer langes Netz mit S-Bahn-Qualität zu schaffen. Die Strecken sollen im Endausbau nicht nur Braunschweig (insbesondere im Norden und Osten) besser erschließen, sondern bis nach Gifhorn, Uelzen, Salzgitter, Goslar, Bad Harzburg und Helmstedt hinausreichen. Es ist kein Bahnhof zu untertunneln, dafür sind andere Details interessant - wie in Kassel werden Dieselhybridfahrzeuge fahren, die gegebenenfalls ohne Oberleitung auskommen; für eine der Netzverbindungen wird eine Kraftwerks-Anschlussbahn umgebaut. Wie üblich ist die Einrichtung eines Haufens neuer Haltepunkte geplant. Aber was bringt diese Nachricht dem Prellblog außer guter Laune?

Es wird hier eine Systemhürde übersprungen, die man üblicherweise für recht groß hält: Unterschiedliche Spurweiten. Das DB-Netz hat 1435 mm (übrigens gibt es da Toleranzen und in Bögen wird die Spur öfters erweitert), die Braunschweiger Straßenbahn hat das höchst exotische Maß von 1100 mm - die nächsten gängigen Schmalspuren sind 1067 mm (Kapspur) und 1000 mm (Meterspur). Die RegioStadtBahn müsste also, um die vibrierende Metropole Braunschweig mit dem Umland zu verbinden, die Spur wechseln.
Faktisch hat man eine andere Lösung gewählt und auf ausgewählten Strecken bereits jetzt Dreischienengleise verlegt, auf denen durch drei Schienen zwei verschiedene Spurweiten verfügbar werden. Langfristig wird das dazu beitragen, das Straßenbahnnetz vollständig auf 1435 mm Normalspur umzustellen. Das rentiert sich, da Fahrzeuge für Sonderspuren grundsätzlich teurer sind.

Die Sache mit der Spurweite zeigt, dass ein »System« bei der Eisenbahn auf klar fassbare Art und Weise abgegrenzt sein kann. Ähnlich ist es mit dem Lichtraumprofil: Dass amerikanische Lokomotiven nicht durch britische Tunnel passen, weiß jeder, der beides einmal live sehen durfte. Dagegen ist zum Beispiel der Unterschied zwischen der Versorgung von Straßenbahnen mit mittelgespanntem Gleichstrom und der von Eisenbahnen mit hochgespanntem Wechselstrom oder gar der zwischen verschiedenen Signal- und Zugsicherungssystemen eher etwas für Fachleute, vom Juristischen ganz abgesehen.
Eine ganz besonders unscheinbare, aber auch wichtige Sache ist das Profil der Spurkränze, Radreifen und Schienen. Straßenbahnen befahren engere Bögen als die meisten Eisenbahnen, haben andere Weichen und dort, wo die Gleise im Straßenraum verlaufen, meist Rillenschienen. Daher sind ihre Spurkränze oft klein und die Reifen zylindrisch, während das bei der großen Bahn ganz anders läuft (siehe Prellblog 23). Braunschweig muss also nicht nur, wo nötig, die dritte Schiene verlegen, sondern auch Fahrzeuge mit einem für beide Systeme tauglichen Radprofil besorgen und sicherstellen, dass dieses durch alle Schienen und Weichen passt. Die Fahrzeugführer müssen für zwei verschiedene Sicherungs- und Signalsysteme ausgebildet sein und dann erst der Papierkram ... ich drücke den Beteiligten jedenfalls alle Daumen und freue mich auf 2013.

Bild: Deutsches Museum Verkehrszentrum über »Mattes« bei Wikimedia Commons (Details und Rechtefreigabe)

2 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Da stellen sich mir gleich mehrere Fragen:
Warum legt man keine Vierschienengleise?
Fahrzeuge beider Spurweiten wären im Gleisbett zentriert, statt einen jeweils unterschiedlichen Lichtraum zu benötigen(oder handelt es sich ohnehin um verschieden breite Wagen?).
Desweiteren könnte man auf den äußeren Schienen mit konischen und auf den inneren weiterhin mit zylindrischen Radreifen fahren.
Warum fahren Straßenbahnen eigentlich noch mit zylindrischen Radreifen?
Im Eisenbahnbereich tut man doch alles, um Sinusläufe zu ermöglichen bzw. nachzuahmen.
LG
Marcus aus Berlin

mawa hat gesagt…

Das Vierschienengleis wäre nicht nur teurer, sondern hätte den Nachteil, dass die Schmalspurfahrzeuge bei gleicher Wagenkastenbreite einen fast 17 Zentimeter breiteren Spalt zu den Bahnsteigen hin hätten, den man mit Ausfahrtritten ausgleichen müsste. Unterschiedliche Schienentypen bei den beiden Schienenpaaren wären schlecht machbar - dort, wo die Schienen im Straßenplanum laufen, muss man eben Rillenschienen verbauen, das wäre auch bei einem Vierschienengleis nicht anders. Das entscheidende Kriterium ist da auch nicht das Radreifenprofil, sondern die Spurkranzhöhe, soweit ich das verstehe.
Es ist insgesamt einfacher, interoperable Weichen und Schienenprofile zu verwenden. Die Unterschiede sind nicht so drastisch, dass sie nicht mit einem "Kompromissradprofil" wie in Karlsruhe gelöst werden könnten.
Der Grund für die zylindrischen Radreifen ist meines Wissens, dass sie günstiger herzustellen und zu unterhalten sind und bei den engen Bögen der meisten Straßenbahnnetze ohnehin kaum Nachteile gegenüber konischen Radreifen haben.