Donnerstag, 16. August 2007

23: Wellenreiter

Im Prellblog 14 ging es darum, wie das bei der Eisenbahn so ist mit den Rädern, und ich hatte versprochen, irgendwann auch über eine Erscheinung namens Sinuslauf zu reden. Heute soll das passieren.

Um noch einmal kurz zu rekapitulieren: Bei einem normalen Eisenbahnfahrzeug bilden je zwei Räder und die sie verbindende Achswelle eine feste Einheit, einen Radsatz. Damit dieser nicht entgleist, hat er überstehende Spurkränze. Ganz vereinfach läuft also die Kante, wo Spurkranz und Radreifen zusammenstoßen, auf der Innenkante des Schienenkopfs, der Fahrkante.
Nun muss aber der Abstand zwischen den Spurkränzen, die Spurweite, ein wenig geringer sein als der zwischen den Fahrkanten, damit sich die Räder nicht zwischen den Schienen verklemmen können. Diese Differenz, das Spurspiel, beträgt je nach Bahnsystem zwischen einigen Millimetern und über einem Zentimeter.
Damit ergibt sich, dass ein Radsatz auf dem Schienenpaar, sofern die Radreifen zylindrisch und die Schienen horizontal sind, in gewissen Grenzen schräg zu den Schienen rollen kann, nämlich solange bis ein Spurkranz anstößt. In der Geraden heißt dies ein ständiges Zickzack mit wechselseitig anlaufenden Rädern, in der Kurve, dass ein Spurkranz fast während des gesamten Durchfahrens des Bogens an einer Schiene schleift.
Insgesamt ist dies nicht sehr befriedigend, schon des Lärms wegen, vom Verschleiß ganz zu schweigen; auch können bei höheren Geschwindigkeiten anlaufende Spurkränze bei genügend seitlichem Druck an der Schienenflanke hochklettern und entgleisen. In der Realität sind daher die Radreifen eben nicht zylindrisch, sondern konisch. Verschiebt sich ein Radsatz seitlich, läuft dadurch ein Rad auf einem größeren Umfang als das andere und eilt voraus; dadurch »lenkt« der Radsatz wieder von der Schiene, an die er anlaufen würde, weg. Insgesamt kommt eine Schwingung der Radsatzmitte um die Gleismitte zustande, die die Form einer Sinuskurve hat; daher der Name Sinuslauf. Idealerweise pendelt der Radsatz dabei im Spurkanal hin und her, ohne mit den Spurkränzen anzulaufen, und wird dabei durch die Gleitreibung bei der Seitenverschiebung gedämpft, bis er gleichmäßig geradeaus läuft. Die Wellenlänge dieser Schwingungen ergibt sich nach der 1883 aufgestellten Klingelschen Formel aus dem Kegelwinkel der Radreifen, den Radien und dem Spurmaß, kann aber auch durch die Aufhängung der Radsätze, die Drehgestellbauweise und Ähnliches beeinflusst werden. Bei hohen Geschwindigkeiten müssen all diese technischen Einflüsse so koordiniert sein, dass sich ein Radsatz nicht bis zur Entgleisung aufschaukeln kann, unter anderem deswegen, weil ab etwa 140 km/h Fahrgeschwindigkeit die Reibungskräfte eines Radsatzes nicht mehr allein zur Dämpfung ausreichen.
Es wird aber noch fitzeliger: Die Radreifen sind nicht nur einfach gerade konisch, sondern haben ein spezielles Profil; außerdem sind die Schienen im Winkel 1:40 nach innen geneigt. Wenn das nicht so wäre, würden die Räder bei ihrer Schwingungsbewegung stets auf derselben Linie auf den Schienen laufen, und das wäre immer noch kein sehr gutes Verschleißverhalten. So aber verlagern sich beim Sinuslauf auch die Auflagepunkte, um das Material zu schonen. Eine Messgröße mit dem schönen Namen »Äquivalente Konizität« gibt wieder, welchem Kegelwinkel im vereinfachten Modell eine bestimmte Situation entspricht, und gehört zu den Parametern, die zum Beispiel bei Hochgeschwindigkeitsstrecken ständig überwacht werden müssen. Man sieht also: Das Zusammenspiel zwischen Fahrzeug und Schiene ist eine komplexe Sache; es reicht nicht, dass das eine auf das andere passt.
Falls doch einmal ein Spurkranz anläuft, ist dieser heute übrigens meistens geschmiert: Es gibt Vorrichtungen, um die Räder oder die Schienenflanken vom Fahrzeug aus, oder bei engen Kurven sogar von der Strecke aus, mit Schmierstoffen zu besprühen. Besonders bei Straßenbahnen, wo noch viel mit zylindrischen Radreifen und daher gänzlich ohne Sinuslauf gefahren wird, ist dies sinnvoll.

Bild: OZinOH bei Flickr (Details und Lizenz)

1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

Sehr schöner Artikel, danke und weiter so!