Donnerstag, 3. Januar 2008

42: Unteilbar

Vor vierzehn Tagen ging es hier um die verschiedenen Antriebskonzepte, die es für Züge so geben kann. Wenn man sich so umschaut, scheint der gute alte antriebslose Reisezugwagen darunter als am langweiligsten und überdies auf dem Weg in die Bedeutungslosigkeit.

Das täuscht in beiderlei Hinsicht ein wenig. Ein Personenwagen ist längst nicht mehr einfach nur ein Kasten auf Rädern mit ein paar Sitzen und ein paar Klotzbremsen. Im Laufe der Jahrzehnte ist einiges hinzugekommen.
Zunächst haben sich natürlich die Drehgestelle bis zu einem Punkt entwickelt, da sie je nach Bauart bei ordentlicher Laufruhe weit über 200 km/h vertragen. Aus dem Klotzbremsen sind Scheibenbremsen geworden. Es gibt Heizung, Klimaanlage und automatische Türen, gegebenenfalls mit Hublift oder Überfahrbrücke für Rollstühle etc. So ziemlich alles ist computergesteuert. Zur Kupplung und dem Bremsschlauch ist heute eine zweite Luftleitung dazugekommen, für bestimmte Bremsfunktionen und den Druckluftbedarf der Türen etc., außerdem eine Hochspannungsleitung. Diese speist die Großgeräte (vor allem Klima und Heizung), aber mittlerweile auch das elektronische Batterieladegerät, das die alten Achsdynamos abgelöst hat, genauso wie Vakuumtoiletten (eventuell behindertengerecht mit automatischen Türen, Höhenverstellung etc.) die alten Fallrohrabtritte. Nicht zu vergessen ist die Datenleitung, die von vorne bis hinten durch den Zug läuft und nicht nur die Bremsansteuerung verbessert, sondern es erlaubt, die Lok vom anderen Ende des Zuges zu steuern, und damit Basis für den Wendezugbetrieb ist.

All die zusätzliche Komplexität hat Wagen mittlerweile recht teuer gemacht. Man schätzt über den Daumen, dass die mittlerweile meistbeschafften Reisezugwagen Deutschlands, die allgegenwärtigen Doppelstockwagen von Bombardier, bei großen Aufträgen 1,7 Millionen Euro pro Steuerwagen und 1,3 Millionen pro Mittelwagen kosten. (Das heißt, dass ein ganz normaler Regionalexpress mit sechs Wagen einen Neupreis von etwa zehneinhalb Millionen hat. Nur nebenbei.)
Einen Versuch, die Infrastruktur der Wagen besser zu verteilen, stellt das Konzept der von eben diesen Doppelstockwagen abgeleiteten niederflurigen Reisezugwagen der Nord-Ostsee-Bahn dar (siehe Abbildung). Hier sind immer zwei Wagen zu einem betrieblich nicht trennbaren Pärchen verkuppelt, und die Ausrüstung, die normalerweise jeder Wagen hätte, verteilt sich so immer auf zwei. Ganz nebenbei sind auch die Kupplungen der Pärchen untereinander keine regulären Kupplungen mit Schraubenspindel und Zubehör, sondern Kurzkupplungen; anders geht es auch gar nicht, da die Züge ja durchgängig niederflurig sind und man schlecht den Fußboden tiefer legen kann als den Zughaken. Das erlaubt dann auch, breitere und kürzere Wagenübergänge mit Faltenbalg, wie man sie von Triebzügen kennt, zu realisieren; diese sind auch aerodynamisch günstiger.

Abgesehen davon, dass die ICE 1 und 2 eigentlich technisch auch nur lokbespannte Züge sind, deren Lokomotiven nie abgekuppelt werden, hat es Vergleichbares schon einmal gegeben: Der Metropolitan, einstmals der Versuch, mit holzgetäfelten Zügen, Ledersitzen und Premium-Service Kunden zwischen Hamburg und Köln zu gewinnen, ist auch durchgängig mit Faltenbälgen versehen, wurde aber von einer ganz normalen Lok gezogen. Heute fahren die beiden Metropolitan-Garnituren als ICE oder IC.
Das Konzept hatte in Deutschland keinen durchschlagenden Erfolg, aber in Österreich werden derzeit Dutzende Fernzüge, die solchermaßen aufgebaut sind, zusammengeschweißt: Der »railjet«, das künftige Spitzenprodukt der ÖBB, besteht aus einer betrieblich nicht trennbaren Wendezugeinheit, an die vorne eine der bereits seit langem beschafften, bis zu 230 km/h schnellen Universallokomotiven der Österreicher angekuppelt wird. Man bekommt so einen Zug, der ganz schön flott läuft, breite Wagenübergänge hat, aber man muss keine Antriebstechnik einkaufen. Was für den »railjet« alles an Einrichtung und Servicekonzepten vorgesehen ist, ist übrigens hochspannend; die Sitze in der obersten Klasse zum Beispiel erinnern mit einer eigenen Schlafposition an die Luftfahrt.

Interessant ist all dies für Deutschland deswegen, weil sich in den kommenden Jahren die Zukunft des InterCity entscheiden wird. Es waren schon einmal etwa 1000 neue IC-Wagen ausgeschrieben, die genau wie die beschriebenen Züge betrieblich nicht trennbar hätten sein sollen, mit Faltenbälgen und so weiter, aber anzuhängen an bereits vorhandene Lokomotiven. In letzter Zeit redet man wieder davon, dass es auch eine Triebzuglösung geben könnte.
So oder so scheint es, dass die Tage des frei in seine Einzelteile zerlegbaren Wagenzuges gezählt sind. Das Konzept antriebsloser Reisezugwagen an sich scheint jedoch durchaus Potenzial für einen zweiten Frühling zu haben. Ich vermute, dass die DB derzeit sehr genau nach Österreich schaut.

Letztlich ist übrigens das Aufkommen kurzgekuppelter, nicht zerlegbarer Wagenverbände nur die technische Umsetzung betrieblicher Realität. Die allermeisten, wenn nicht alle, Wagenzüge im modernen Personenverkehr werden als feste Einheiten gefahren und gewartet. Flexibel Wagen auszusetzen oder einzustellen ist unüblich geworden, weil es weder genügend flächig verteilte Wagenreserven noch die nötigen Rangierlokomotiven gibt, vom Personal ganz zu schweigen. Man kann das bedauern; meiner Ansicht nach ist die relative Starrheit der Zugkapazitäten der Preis, der für die flächendeckenden Taktfahrpläne zu zahlen war, und insofern kann ich sie verschmerzen.


Bild: »vovchychko« bei Flickr (Details und Lizenz)

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