Donnerstag, 26. Juli 2007

20: Der Pate

Anderen ist die Situation vielleicht auch bekannt, mir auf jeden Fall sehr gut: Man steht an einem Bahnsteig eines großen Kopfbahnhofes, sagen wir, Frankfurt am Main, direkt an der weißen Linie. Der Zug fährt ein, sagen wir, ein Intercity, bespannt mit einer Drehstromlok Baureihe 101, und er fährt ein mit einer Geschwindigkeit, zu der ich einmal irgendwo den österreichischen Kommentar »Das derbremst der nie!« lesen durfte.
Wie ein vierundachtzig Tonnen schwerer Staubsauger heulend zieht die Lok vorbei, man könnte fast mit ausgestrecktem Arm das glatte rote Seitenblech berühren, und in diesem Moment wird einem schlagartig klar, welche kinetische Energie dieser Zug gerade in all seinen zirka achtzig Scheibenbremsen vernichten muss und dass es diesmal bestimmt nicht klappt -
Und es klappt natürlich immer, die Züge stehen bekanntlich stets geradezu punktgenau vor dem Gleisende, und die Scheibenwäscher können mit ihren langen Schrubbern problemlos vom Querbahnsteig her die zerspratzten Insekten von der Lokfront putzen.

Für den Fall, dass es einmal nicht klappt, gibt es die (nicht nur in Frankfurt mit absurden Blumenkästen geschmückten) Gegenstände, denen dieses Blog seinen Namen verdankt: Prellböcke.

Anders als bei vielen anderen Geräten des Eisenbahnbetriebs ist der Prellblock an sich quasi selbsterklärend. Da ist etwas, das Züge aufhalten soll, die dagegen fahren. Das ist relativ einsichtig.
Was nicht so offensichtlich ist, ist, dass Prellböcke heutzutage keine festen Bauwerke mehr, sondern normalerweise als sogenannte Bremsprellböcke mit den Schienen verbunden sind. Durch Entlanggleiten an den Schienen, Zusammenfalten scherenartiger Vorrichtungen im Gleis, Mitnehmen von Schwellen und ähnliche Kunstgriffe kann der Prellbock, oft unter Inkaufnahme der eigenen Zerstörung oder des Demolierens einiger Meter Gleis, selbst schwere Züge bei gar nicht so geringen Geschwindigkeiten (10 km/h für Zugfahrten, 15 km/h für Rangierfahrten sind der Richtwert) abbremsen, ohne dass es zu einem Entgleisen kommt. Die Bremsvorrichtungen der Gleisabschlüsse in Frankfurt, Stuttgart oder anderswo sind dafür so umfangreich, dass sie unter dem Querbahnsteig weiterlaufen.
Angesichts mehrerer schwerer historischer Unglücke in Kopfbahnhöfen -das Bild mit der Lokomotive, die am 22.10.1895 die Fassade der Gare Montparnasse durchbrochen hatte, sollte man schon gesehen haben- ist der Aufwand zweifellos gerechtfertigt. Erfunden wurde der Bremsprellbock ja überhaupt erst, nachdem in Frankfurt ein internationaler Fernzug in einen Speisesaal gefahren war. Die Firma Rawie, wo die Idee damals aufkam, ist übrigens immer noch Marktführer.
Aber auch aus weniger dramatischen Gründen ist es sinnvoll, Gleise technisch abzuschließen, denn etwas passieren kann immer. Kurz nach Einführung des Bremsprellbocks, zu geruhsamen Zeiten, als die Lokomotiven von Güterzügen noch eingesetzt wurden, um unterwegs Wagen ein-, aus- und umzurangieren, wurde die technische Neuerung damit gerühmt, dass mit einer genügend starken Kette der aufprallende Zug selber den Gleisabschluss wieder dorthin zurückschleppen konnte, wo er auf ihn aufgefahren war.

Bild: Boris van Hoytema bei Flickr (Details und Lizenz)

Freitag, 20. Juli 2007

Collaborative Prellblogging

Prellblog existiert nun schon eine ganze Weile und hat einigen Zulauf. Was mich etwas wundert, ist, dass meine Leserschaft sehr zurückhaltend mit Kommentaren ist, aber das kann man als gutes Zeichen genauso werten wie als schlechtes.

Um auch LeserInnen als Plattform dienen zu können und das Prellblog insgesamt aufzuwerten, habe ich mir schon vor einiger Zeit überlegt, hier Gastbeiträge zu veröffentlichen. Diese werden nicht als reguläre Beiträge erscheinen, sondern sonntags. Die durchnummerierten Donnerstags-Kolumnen laufen weiter wie bisher. Ich möchte also nicht, dass meine Leserschaft mir Arbeit abnimmt.

Wer Interesse hat, einen Gastartikel zu liefern, kann sich per Kommentar in diesem oder irgend einem anderen Beitrag zu Wort melden (aber bitte keine kompletten Artikel als Kommentar posten!). Die Länge sollte um die 500 Wörter sein, ein Bild kann mitgeliefert werden, muss aber nicht. Jedes Thema, das mit der Eisenbahn in Deutschland oder anderswo zu tun hat, geht, solange es nicht von Museumsdampfloks, Fotostellen oder Modellbau handelt.

Ich freue mich darauf!

Donnerstag, 19. Juli 2007

19: Das nächste Jahrhundert

Die Grundfigur großer Personenverkehrs-Knotenausbauten der Eisenbahn ist die Durchquerung der Innenstadt, typischerweise um ungeeignete alte Infrastruktur mit Kopfbahnhöfen jenseits der Siedlungsgrenze aufzubrechen. Die U-Bahnen, die Berliner Ost-West-Viadukttrasse (»Stadtbahn«) und diverse S-Bahn-Tunnel, deren neuester gerade in Leipzig in Bau steht, zeugen davon ebenso wie die Nord-Süd-Querungen Berlins, die auch mit Fertigstellung der Fernbahntunnel nicht als abgeschlossen gelten können, da die zweite Nord-Süd-S-Bahn S21 noch aussteht. In Wien wird ein Zentralbahnhof für je nach Rechnung 0,6 bis 1,8 Milliarden Euro gebaut, in Paris war zumindest bereits ernsthaft die Rede davon, die damals schon märchenhaft teuren Röhren (knapp 1,4 Milliarden heutige Euro) des schnellen Vorortverkehrs RER um eine Querung für den Hochgeschwindigkeitsverkehr zu ergänzen, Kostenpunkt ähnlich viel.

Warum das alles aufzählen?  Heute ist der Beschluss ergangen, das seit 1988 geplante Projekt »Stuttgart 21« zu realisieren, ein umfangreiches Paket aus Bahnhofsum- und -neubauten und vielen Kilometern Tunnel, das die Stuttgarter Eisenbahninfrastruktur vollständig umkrempeln und an die Neubaustrecke nach Ulm anschließen soll. Das Projekt ist ebenso teuer wie umstritten, planungsrechtlich aber weitgehend erledigt, was fehlte, war nur noch das Geld. Jetzt wird es also gebaut, und was wird der Effekt sein?
Man kann nicht viel mit Sicherheit sagen. Dass im neuen Stuttgarter Hauptbahnhof keine Dieselzüge mehr halten können werden, ist klar. Betroffene Regionalverbindungen werden schlimmstenfalls vor den Tunnelstrecken an Umsteigebahnhöfen enden müssen. Dass die Strecke nach Ulm unabhängig vom Bahnhofsumbau erhebliche Fahrzeitverbesserungen bringen wird, ist ebenfalls nicht kontrovers. Anderes schlagen sich Fachleute, Politiker, Lobbyisten und interessierte Laien nun schon Jahr und Tag in Studien und Schmähschriften um die Ohren, ohne zu Ergebnissen zu kommen. Die Kapazität des neu entstehenden achtgleisigen Tunnelbahnhofs wird zum Beispiel von den einen als zweifellos völlig unzureichend, von den anderen als zukunftssicher, mit viel Spielraum nach oben, gehandelt. Gleiches gilt für die Bedienungsqualität des vertakteten Regionalverkehrs, für die Breite der Bahnsteige und das Aufnahmevermögen der Zugänge und so weiter. Von den Stadtentwicklungsprojekten, die sich an die freiwerdende Gleisfläche, von den etwaigen Umwelt- und Mikroklimaproblemen, die sich an deren Bebauung knüpfen, ganz zu schweigen.
Ich will hier das Projekt nicht enthusiastisch gutheißen. Zwar wurden bisher etwa dreihundert Millionen in die Planung gesteckt, aber die sind so oder so weg, und wenn sich eine Alternativlösung fände, die nicht ganz so astronomisch viel kostete, könnte man sie anderswo einsparen. Mit versunkenen Kosten soll man nicht argumentieren. Das Konzept an sich ist nicht revolutionär, aber auch nicht wirklich schlecht, und es hat noch niemand zeigen können, wie man unter Beibehaltung des Kopfbahnhofes vergleichbare Ergebnisse erzielen könnte, ohne ähnlich viel Geld auszugeben.
Letztlich sehe ich als das Hauptproblem von Stuttgart 21 genau die Vermarktung als revolutionäre Innovation, wo das Projekt sich doch eigentlich logisch in den Trend zu unterirdischen Stadtquerungen einfügt. Auch das Tieferlegen von Bahnhöfen, um auf den freigewordenen Gleisflächen ganze neue Stadtviertel zu bauen, ist nicht im Geringsten neu, das spektakulärste Projekt dieser Art, die Tieferlegung von Grand Central Terminal in New York, wurde schon 1913 abgeschlossen.
Wir können gespannt sein, wie es in Stuttgart läuft. 2010 soll der Bau beginnen. Es wird wohl weder eine Offenbarung noch eine Katastrophe werden.

Bild: Jonathan G. Henderson bei Flickr (Details und Lizenz)

Donnerstag, 12. Juli 2007

18: Track sounds

Als zirka 200 Jahre altes Kulturphänomen hat die Eisenbahn natürlich auch Einfluss auf die Künste gehabt, und darum soll diese Kolumne sich heute nur mit Eisenbahnmusik beschäftigen.
Wenn man mal vom Volkslied Auf de schwäbsche Eisebahne und von Arthur Honeggers nachträglich nach einem Dampflokomotiventyp benannter Komposition Pacific 231 absieht, haben Bahnmotive ihre musikalische Heimat vor allem in Nordamerika, wo nicht die Industrialisierung eines Bestandes, sondern die industrielle Erschließung eines »unberührten« Raumes mit der Eisenbahn assoziiert ist. In Blues-Standards wie Midnight Special taucht der Zug (wie auch in verschiedenen Spirituals und Gospels) geradezu als heilsbringendes Symbol am Horizont auf, in This Hammer werden für einen Dollar am Tag Schwellennägel eingeschlagen, und eine ganze Boogie- und R&B-Stilistik arbeitet sich an dem Rhythmus ab, den vierachsige amerikanische Güterwagen auf gelaschten Gleisen produzieren. Der Midnight Train der Spencer Davis Group fährt damit genauso wie Meade Lux Lewis' Honky Tonk Train Blues (den gibt es auch in einer Version von Emerson, Lake & Palmer) oder so ziemlich alles von Johnny Cash und den Tennessee Three.
Gefahren wird in der Musik anscheinend grundsätzlich nachts, das gilt auch in Großbritannien: Ein Lied über das Ende der Bahnpost gibt es von Saxon mit Princess of the Night, und Ozzy Osbournes Crazy Train ist wohl auch eher im Nachteinsatz unterwegs. Der schottische Beitrag ist dann wohl oder übel Sheena Eastons Pendlerhymne Morning Train (Nine To Five), auch wenn man über deren künstlerischen Wert streiten kann. Wenn wir schon den Atlantik überquert haben, muss auch Trans Europa Express von Kraftwerk, das auf dem gleichnamigen Album den ersten Flügel eines Eisenbahn-Triptychons bildet, erwähnt werden;  genauso elektronisch ist zum Beispiel auch Transrapid von Welle:Erdball, wo es aber eigentlich nicht mehr um die Eisenbahn geht. Nach Ansicht von Puristen müsste ja schon Duke Ellingtons langjährige Erkennungsmelodie Take The "A" Train auch dran glauben, da sie ihr Komponist Billy Strayhorn nach einer Linie der New Yorker U-Bahn benannt hat.
Und damit sind wir schon wieder in Amerika: Bei Ellington fahren eine ganze Menge Züge, darunter der Daybreak Express und der Happy-Go-Lucky Local, dessen hinterer Teil bei James Brown als Night Train unterwegs ist auf der Strecke Miami-Boston über Atlanta, Raleigh, Washington D.C., Richmond, Baltimore, Philadelphia und New York, es aber irgendwie dann noch nach New Orleans schafft, wo auch die Stammstrecke der Illinois Central endet, die man aus Long Train Runnin' von den Doobie Brothers kennen könnte. In einer Kleinstadt hinter Atlanta sollte dabei auf Gleis 29 Übergang bestehen auf Glenn Millers Chattanooga Choo Choo (komponiert von Mack Gordon und Harry Warren).

Zum Schluss noch ein persönlicher Favorit, auch wenn diesen inhaltlich rein gar nichts mit der Eisenbahn verbindet: Nachts durch beleuchtete Großstädte (ich empfehle Frankfurt) fährt es sich meiner Ansicht nach am besten zu Mammagamma vom Alan Parsons Project.

Bild: Wolfgang Staudt bei Flickr (Details und Lizenz)

Donnerstag, 5. Juli 2007

17: Put the Hebel on the Table

Im Zusammenhang mit den Streiks der letzten Tage und den exorbitant scheinenden Lohnforderungen der Gewerkschaft der Lokführer befassen sich auch Presse und interessierte Laien näher mit diesem Beruf. »Was macht so jemand eigentlich?« ist die erste Frage; die zweite fragt interessanterweise gerne danach, wie er sich mit dem der Verkehrspilotin vergleichen lasse.
Auf den ersten Blick scheint der Führerstand eines modernen Triebfahrzeugs sehr simpel. Ähnlich wie in der Luftfahrt ist man zum »Glascockpit« mit mehreren, inzwischen sogar farbigen, Multifunktionsanzeigen übergegangen; die letzten verbliebenen Rundinstrumente sind oft die Manometer, passend zur Sicherheitslogik der Eisenbahn, die vorsieht, dass das Druckluftbremssystem immer und unter allen Umständen funktionieren muss, auch wenn sonst alles ausfällt.
Zu bedienen gibt es recht wenig, es ist schon viel, wenn es für Fahren und Bremsen noch getrennte Schalter gibt: Oft ist das mittlerweile in einem einzigen Schalter zusammengefasst. Motorenregelung und Bremsmanagement erledigt der Computer, zum Anfahren legt man also den Hebel auf den Tisch und der Zug zieht davon. Moderne Lokomotiven erreichen übrigens ohne Anhängelast Beschleunigungswerte, bei denen Hinsetzen dringend geboten ist.
Schwieriger ist es da schon zu bremsen, was als die wahre Kunst gilt. So ein Zug hat im Bahnhof an seiner entsprechenden Haltetafel zum Stehen zu kommen, damit auch an allen Türen der Bahnsteig ist und die Abschnittsbuchstaben ihren Sinn haben. Je nach Zuglänge mag es mehrere Tafeln geben, und vielleicht hält der Zug ja auch nicht an jedem Bahnhof. Das führt direkt zum Kern der Arbeit des Lokführers: Nicht nur einfach einen Zug fahren, sondern ihn nach Fahrplan fahren, denn kein Zug darf ohne Fahrplan verkehren. Daher ist auch der Platz in der Mitte des Fahrtischs leer, weil dort jede Menge Literatur zu liegen kommen kann, Hefte, aus denen genau zu entnehmen ist, wie auf der Strecke gefahren werden darf und muss, wie das Fahrzeug gefahren werden darf und muss, wann dieser Zug wo wie lange hält, welche außerplanmäßigen Langsamfahrstellen es gibt und so weiter. Große Teile dieser Informationen werden zwar schon per Monitor geliefert, aber eben noch nicht alle und nicht immer.
Das führt zur wichtigsten Aufgabe, der Sicherheit. Wer einen Zug fährt, ist für seinen korrekten und sicheren Betrieb verantwortlich. Viele wissen, dass man bei der Eisenbahn zweimal pro Minute einen Knopf drücken oder ein Pedal kurz loslassen muss, weil sonst der Zug automatisch gebremst wird. Das ist aber längst nicht alles. Die Triebfahrzeugführerin muss die Signale beachten, automatische Zugbeeinflussungen quittieren, Befehle der Fahrdienstleitung ausführen (aber nur genau dann, wenn sie formgerecht erteilt wurden und nichts entgegensteht) und vieles mehr. Gegebenenfalls, wenn das kein anderes Personal tut, hat sie sich um das sichere Schließen und Freimachen der Türen zu kümmern, vor Schichtbeginn die Bremsen zu prüfen, Störungen zu beheben, Ansagen über die Bordlautsprecher zu machen und vieles andere mehr. Im Gegensatz zum Flugzeugführer muss sie außerdem damit rechnen, dass in ihrem Berufsleben statistisch mindestens einmal ein Selbstmörder vor ihr Fahrzeug springt.


Bild: Keystone 1923, über Library of Congress und Wikimedia Commons (Details und Rechtefreigabe)