Montag, 18. Oktober 2010

142: Sternzeit

Wir leben fürwahr in interessanten Zeiten. Die Medien sind voller Eisenbahnnachrichten, beziehungsweise Nachrichten über Tunnels: Stuttgart 21 hält sich weiterhin auf den Titelseiten (siehe Prellblog von letzter Woche); in der Schweiz ist mit dem Gotthard-Basistunnel der künftig längste Eisenbahntunnel der Welt durchgestochen worden; der Staat New Jersey hat den laufenden Bau eines neuen Hudson-Tunnels unterbrochen, der die größte Investition aller Zeiten in den amerikanischen Nahverkehr geworden wäre; und der beabsichtigte Einsatz von Hochgeschwindigkeitstriebzügen Modell Siemens Velaro im Ärmelkanaltunnel durch die Deutsche Bahn (die dafür derzeit erste Zulassungsschritte anstrebt) und durch Eurostar (die für gut 680 Millionen Euro eigene Velaros anschaffen will) sorgt für Unmut in der bahnpolitischen Landschaft Frankreichs. Wann hat es das schon einmal gegeben?
Über Stuttgart 21 möchte ich nicht schon wieder Worte verlieren, am Gotthard-Basistunnel wird nun schon seit Ewigkeiten gebaut und der erste der neuen langen Alpentunnels, der Lötschberg-Basistunnel ist mithin schon in Betrieb; das Hudson-Untertunnelungsproject ARC (Access to the Region's Core) demonstriert die mittlerweile fast sprichwörtliche Investitionsschwäche der USA bei großer Infrastruktur, was in den gegenwärtigen Zeiten drohender Stagflation ein größeres Gewicht hat als sonst, aber eigentlich nichts Neues ist. Die große Nachricht, neben jener, dass Eisenbahnnachrichten überhaupt in dieser Masse Nachrichten sind, ist daher, dass DB und Eurostar vorhaben, kräftig Mehrverkehr unter den Kanal zu bringen.
Dies ist nämlich schwieriger als man sich das so denken mag. Die Sicherheitsanforderungen sehen derzeit unter anderem vor, dass Züge Brandschutztüren an jedem Wagenübergang haben müssen, mindestens 375 Meter lang sein müssen, so dass stets ein Notausgang der Tunnelröhre ohne Verlassen des Zuges erreicht werden kann, und sich der Zug in zwei getrennt abfahrbare Hälften teilen lassen können muss. Außerdem verlangen die britischen Behörden Pass- und Gepäckkontrollen am Abfahrtsbahnhof, was bedeutet, dass Bahnsteige, von denen aus Züge durch den Tunnel fahren, de facto isoliert sein und spezielle Terminalanlagen aufweisen müssen. Mithin ist es seit Jahren ein offenes Geheimnis, dass das verkehrsgenerierende Potenzial des Tunnels längst nicht ausgenutzt wird, da ihn als einzige Fernreisezüge die speziell konstruierten TGV-Derivate von Eurostar durchfahren dürfen, und auch die nur zwischen einigen wenigen speziell eingerichteten Stationen. Verkehre zu Zielen in Nordengland und Schottland scheiterten ebenso wie Nachtzüge, obwohl dafür sogar schon das Zugmaterial beschafft war.
Nun sendet die Tunnelbau- und -betriebsgesellschaft, nach Gläubigerschutzphase und Umschuldung mittlerweile als Groupe Eurotunnel firmierend und nur noch mit etwa vier Milliarden Euro Schulden belastet statt wie die Vorgängerfirma mit neun, schon seit Längerem Signale, für mehr Verkehr in den Röhren sorgen zu wollen. Mittlerweile fahren denn auch zwei konkurrierende Eisenbahnen konventionelle Güterzüge durch den Tunnel. Eurostar ist derweil von einer Partnerschaft in eine wesentlich handlungsfähigere Kapitalgesellschaft umstrukturiert worden (vergleiche: Airbus), und schickt sich an, aus eigener Kraft die genannte Flotte neuer Siemens-Züge anzuschaffen, die gegebenenfalls Ziele in ganz Europa ansteuern können sollen. Und die DB will mit ihren eigenen Velaros mitmischen.
Dem französischen TGV-Hersteller Alstom, Hoflieferanten der französischen Staatsbahn SNCF und auch Hersteller der bisher verkehrenden Eurostars, schwimmen dadurch natürlich gewisse Felle weg. Die nie sehr ernst genommene deutsche Konkurrenz macht sich auf einmal tatsächlich bemerkbar. Die SNCF als Mehrheitseignerin von Eurostar ebenso wie französische Ministerien möchten die Velaro-Beschaffung als »null und nichtig« betrachten, Alstom selbstredend auch. Bizarrerweise wird dabei damit argumentiert, die Sicherheitsbestimmungen im Tunnel ließen nur Triebkopfzüge zu, obwohl der vor einigen Jahren mit vielen Vorschusslorbeeren an den Start gegangene, erstmalig an allen Achsen statt durch Triebköpfe angetriebene Alstom AGV wohl ebenfalls auf die Eurostar-Ausschreibung hin angeboten worden war. So oder so: Im Moment sind die Verwerfungen zu spüren, die durch den weiteren Verfall der alten Staatsbahnstruktur entstehen; besonders durch den Verfall einer Beschaffungsstruktur, die hinsichtlich ihrer nationalen Beschränktheit der altmodischen europäischen Rüstungsbeschaffung in nichts nachstand. Mittlerweile drängen auch schon japanische Hersteller von Hochgeschwindigkeitszügen auf den europäischen Markt, und früher oder später wird ihnen die chinesische und osteuropäische Konkurrenz folgen.
Europa ist derzeit mit schnellem Fernzugmaterial, vor allem mit solchem, das grenzüberschreitend einsetzbar ist, aus historischen Gründen, unter denen das Kanaltunnel-Reglement nur ein besonders  schillernder ist, eher unterversorgt, was den Markteintritt für neue Bahnen unverhältnismäßig erschwert. Das könnte sich in den nächsten Jahren drastisch ändern; eventuell könnte der Markt für Eisenbahn-Hochgeschwindigkeitsverkehr explodieren wie zuletzt der für Billigflüge (Bedingung der Möglichkeit ist natürlich hier wie dort die staatlich finanzierte Infrastruktur, das sei nicht verschwiegen). Bleibt nur die Frage, ob dann die Trassen reichen, und wo der Güterverkehr dabei bleibt. Aber über Stuttgart 21 wollte ich diese Woche ja nicht reden.
Bild: Matt Buck (»mattbuck4950«) bei Flickr (Details und Lizenz)

2 Kommentare:

Bernd hat gesagt…

Ein "größtes $Ding aller Zei­ten" in einem Text von einem Philosophen? Ich bin ein wenig amüsiert :-)

"alle Zeiten" umfasst doch eindeutig auch die Zukunft, oder?

Ich gebe aber auch zu, eine "aller Zeiten"-Allergie zu haben, diese Redewendung wird einfach furchtbar inflazionär auch für Dinge gebraucht, die dann wenige Wochen später doch wieder übertroffen werden.

In fast allen Fällen ist es zu ersetzen durch ein simples "bisher"...

Grüße von einem Stammleser, der diesen Nörgler konstruktiv verstanden wissen will.

mawa hat gesagt…

Nein, ich verstehe das nicht "konstruktiv", tut mir Leid.

Es ist so oder so wenig sinnvoll, pragmatisch eindeutige Ausdrücke semantisch auseinanderzunehmen. Wenn ich sage, jemand setze sich an die Spitze einer Bewegung, fragst du dann auch, was sich da bewegt und wo denn dessen Spitze zu suchen sei? Über die Vorstellung, Sprache sollte oder könnte Realität 1:1 abbilden, sollten wir doch spätestens seit Wittgenstein II weg sein. Abgesehen davon würden solche Ermahnungen bei mir nicht verfangen, weil ich nicht der Meinung bin, dass es eine objektive Realität gibt, deren Korrespondenz mit Behauptungen sich irgendwie außersprachlich prüfen ließe.

Noch weniger sinnvoll wird so etwas, wenn man damit ein zeitontologisches Fass aufmacht. Was heißt hier "umfasst eindeutig auch die Zukunft"? Dafür, wie du das "eindeutig" argumentieren willst, interessieren sich die analytischen Philosophen, die sich darüber seit Jahrzehnten zanken, bestimmt sehr. Angenommen, es gäbe wirklich "Zeiten" im Plural, über die man quantifizieren kann, dann ist damit noch längst nicht gesagt, welche es gibt und welche nicht bzw. welche unterschiedlichen Realitätsgrade verschiedene "Zeiten" haben und inwiefern diese abhängig sind vom Standpunkt des Beobachters (Stichwort Präsentismus vs. Äternalismus; mal McTaggart gelesen?). Und worüber man genau quantifiziert, wenn man in der Umgangssprache "alle" sagt, wenn die in Frage kommenden Individuen nicht alle denselben Realitätsgrad haben, ist ebenfalls diskussionswürdig.

Wenn ich deine Position stark lese, ist es gar nicht möglich, noch irgendwelche Allaussagen über kontingente Individualeigenschaften zu treffen. Ich dürfte dann nicht mehr sagen "Paris ist die größte aller französischen Städte" - denn wer weiß, ob es nicht in tausend Jahren eine andere, viel größere französische Stadt geben wird?