112: Das Bildungssystem
Maschen, ein größeres Dorf am Rand der Lüneburger Heide, ist ein durch die A250 zweigeteilter Ort, der unter Nichtkennern der Eisenbahn höchstens dafür bekannt ist, dass dort der wilde, wilde Westen anfängt. Dass ausgerechnet dort vor vier Tagen eine Baumaßnahme im Volumen von nahezu einer Viertelmilliarde Euro, bei der unter anderem 120 Kilometer Gleis erneuert werden sollen, angelaufen ist, klärt sich erst beim Blick auf eine Luftaufnahme.
Da entpuppt sich der Ort selber nämlich als geradezu nebensächliches Anhängsel an einem riesigen, doppelten Bündel von Gleisen, das sieben Kilometer lang und siebenhundert Meter breit in der norddeutschen Tiefebene liegt, und auf dem sich aus der Luft viele kleine bunte Güterwagen erkennen lassen. Maschen ist Heimat des zweitgrößten Rangierbahnhofs der Welt und des größten Europas.
Rangierbahnhöfe hat man bereits einmal für grundsätzlich überholt gehalten, und in vielen Ländern gibt es gar keine mehr. Dies liegt an der Natur ihrer Tätigkeit und am Strukturwandel des Eisenbahngüterverkehrs.
Ein Rangierbahnhof löst das Problem, dass Güter auf der Bahn von vielen Orten in unterschiedlichen Mengen versandt und an viele Orte ausgeliefert werden, Züge aber umso wirtschaftlicher fahren, je länger sie sind. Dies geschieht dadurch, dass Wagen an verschiedenen Orten eingesammelt, in einem gemeinsamen Zug zu einem Rangierbahnhof geschickt werden, dass dieser dort zerlegt und auf neue Züge verteilt wird, die dann die Weiterverteilung übernehmen.
Die technische Realisierung dieses Auftrags gehört dabei zum Imposantesten, was die Eisenbahn zu bieten hat. Das Grundprinzip besteht darin, die eingehenden Züge in Kolonnen ungekuppelter, ungebremster Einzelwagen aufzulösen und diese so kontrolliert über eine kleine Kuppe (Ablaufberg) im Gleis zu schubsen, dass man zwischen den einzelnen Wagen Zeit hat, Weichen umzustellen, so dass sie in die Zielgleise rollen. Die praktische Umsetzung ist hochkomplex und heutzutage über Computer koordiniert; in modernen Rangierbahnhöfen schließt sie ferngesteuerte Lokomotiven ein, die die Wagen über den Ablaufberg schieben, radargesteuerte Gleisbremsen, die die Räder der Wagen von unten packen, um sie zu verzögern, und zwischen den Schienen der Zielgleise laufende Förderwagen, die die sortierten Wagen zum Kuppeln zusammenschieben. Der Nürnberger Rangierbahnhof, der keinen Ablaufberg in der Ebene hat, sondern gleich komplett im Gefälle liegt, hat Tausende von kleinen Bremselementen und klappbare Prellböcke, die Wagengruppen vor dem Wegrollen sichern können. Die Kapazität moderner Rangierbahnhöfe ist denn auch gewaltig - selbst unter der erschwerten Bedingung, dass in Europa nach wie vor keine automatische Kupplung eingeführt wurde (Prellblog 8), schafft Maschen eine maximale Rangierleistung von 165 Wagen pro Stunde und Richtung. (Der größte aller Rangierbahnhöfe, Bailey Yard, Nebraska, hat zwar insgesamt mehr Durchsatz, schiebt davon aber weniger über die Ablaufberge.)
Nur wird, und deswegen auch die dräuende Einleitung zu diesem Artikel, diese Kapazität nicht wirklich ausgenutzt, da der Eisenbahnverkehr nicht mehr alle mit allen verbindet wie früher vielleicht einmal, sondern immer mehr so genannte Ganzzüge gefahren werden - Züge, die nirgendwo zeit- und arbeitsaufwändig umgebildet werden, sondern direkt und über Nacht von Punkt zu Punkt fahren, meistens von einem Seehafen in ein fernes Land (gerne Italien). Auch gehören in Deutschland (bis auf den ehemals stillgelegten in Wustermark) alle Rangierbahnhöfe der DB, während gerade beim Ganzzugverkehr die Konkurrenz immer größere Marktanteile erringt. Bisher hat sich der Einzelwagenverkehr gerade für die DB als Einnahmequelle überraschend gut halten können; die Schließung aller Rangierbahnhöfe, von der bei Schwarzsehern noch vor fünf bis zehn Jahren gerne die Rede war, ist abgewendet, wenn sie je zur Debatte stand. Doch trotzdem fordern die Zeiten ihren Tribut.
Die anfangs genannte Erneuerung in Maschen ist nicht nur eine Renovierung und allgemeine Aufmöbelung der Anlage, sondern auch eine Umstrukturierung, die Teile der Sortieranlage opfert, um mehr lange Gleise für den nächtlichen Langstreckenverkehr einrichten zu können. Außerdem soll neuere Technik Arbeitsplätze einsparen, da der Güterverkehr bekanntlich in allen Sparten unter gewaltigem Kostendruck steht.
Die Viertelmilliarde für die Großbaustelle im wilden, wilden Westen dokumentiert somit gleichzeitig das Überleben des Totgeglaubten, aber auch, dass Eisenbahn kein Freilichtmuseum sein kann, wenn sie überleben will. Vielleicht wird es in Deutschland irgendwann keine Ablaufberganlagen mehr geben, weil die Riesenflächen der Rangierbahnhöfe besser für flache Gleisanlagen und Containerterminals genutzt werden können. In Lehrte soll nach jahrzehntelangem Gehader demnächst der Bau einer Umschlaganlage beginnen, in der Container zwischen Ganzzügen umgeladen werden sollen, so dass gemischte Züge ohne Rangieren möglich sind (aber eben nur für Container und Wechselbrücken). Vielleicht kommt irgendwann aber auch die automatische Kupplung, der selbstfahrende Güterwagen und der Einzelwagenverkehr boomt? Es bleibt wie immer spannend.
Bild: Robert Ashworth bei Flickr (Details und Lizenz)
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