Samstag, 5. Mai 2007

8: Was zieht

»Zug« bedeutet, dass etwas gezogen wird. Bei einem Regionalexpress vielleicht nur sechs Wagen, bei einem Güterzug gerne mehr als dreißig, im Ausland zuweilen über hundert. Aber was zieht da eigentlich?
Von den angetriebenen Radsätzen (zur Terminologie siehe Prellblog 14) kommen die Zugkräfte über Drehzapfen oder Zug- und Druckstangen auf den Rahmen der Lokomotive, die wie jedes Fahrzeug darauf genormt ist, die Maximalzugkräfte übertragen zu können. An jedem Ende ist ein gefederter Zughaken und eine Zugöse montiert, und zum Kuppeln wird eine Öse über einen Haken gehängt.
Züge müssen aber auch geschoben werden können. Deswegen kann jedes Fahrzeug auch Druckkräfte vertragen und hat gefederte Puffer, die immer eng anliegen müssen, da sonst beim Anfahren und Bremsen die Wagen gegeneinander prallten, was für alle Beteiligten unangenehm wäre. Daher hängen die Zugösen an Schraubenspindeln, die beim Kuppeln gespannt werden. Haken und Puffer ergeben zusammen eine elastische, straffe Verbindung. Damit es, wenn die Puffer sich gegeneinander verschieben, nicht quietscht, sind sie eingefettet, und bei Eisenbahnausstellungen werden sie abgedeckt, damit sich Schaulustige keine Flecken holen.
Das System hat den Vorteil, dass es sicher und unkompliziert ist. Kuppeln ist allerdings zeitraubendes Geschraube, und man kann die Zugösen nur so stark ausführen, dass sie der Durchschnittsrangierer noch anheben kann. Das begrenzt die Zuglast und das Maximalgewicht eines Zuges. Außerdem muss man vor dem Kuppeln so rangieren, dass die Puffer anliegen, und das braucht Fingerspitzengefühl.
Nordamerika macht wie immer alles anders: Es gab dort nie Außenpuffer, sondern einen Mittelpuffer, anfangs mit einem Schlitz und einem Loch, so dass man Wagen mit einer Öse und Splinten kuppeln konnte. Für Rangierer war das derart gefährlich, dass 1888 gesetzlich eine Kupplungsklaue eingeführt wurde, die beim Auffahren einrastet. Da sie kein Rangierer heben muss, kann man riesige Zugklauen verwenden, fünf Kilometer lange Kohlenzüge fahren und den Autos zuwinken, die eine halbe Stunde lang vor den Bahnübergängen warten. Gefühl beim Rangieren braucht man auch weniger.
Entsprechend hat sich auch der Rest der Welt nach und nach auf solche Automatikkupplungen umgestellt, bis auf Europa, wo es einfach zu viele Bahnverwaltungen und zuwenig Interesse an langen Zügen gab. Technisch waren die Umstellungspläne zwar bereits ausgearbeitet, aber wirklich gemacht hat man es nie. Geschadet hätte es bestimmt nicht.

Es gibt inzwischen in jeder Lebenslage zuverlässige vollautomatische Kupplungen, die auch gleich die Bremsluftleitungen, die Stromversorgung und die Datenkabel mitverbinden, und die man übergangsweise zusammen mit dem alten System montieren kann. Man kann allerdings nicht damit rechnen, dass in Europa bald die Haken und Ösen abgeschafft werden - es kostet schon über eine halbe Milliarde Euro, bei den Schweizer Bundesbahnen alle Bremsbeläge auszutauschen; man kann abschätzen, wie teuer es wäre, an einer Million europäischer Güterwagen elektromechanische Kupplungen zu montieren.

Bild: Arnold Reinhold bei Wikipedia Commons (vollständiges Foto, Details und Lizenz)

3 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Das größere Problem ist, daß man für eine Übergangszeit zwei nicht miteinander kompatible Kupplungssysteme hätte. Denn die - in bestimmten Teilbereichen eingeführte "Automatische Mittelpufferkupplung" kann nicht mit der klassischen Schraubenkupplung verbunden werden. Das bedeutet: man muß die Züge danach sortieren, welche Kupplung sie führen, und ggfs. doppelte Zugführung oder die Herstellung und den Einsatz von Zwischenwagen mit den verschiedenen Kupplungssystemen an beiden Enden in Kauf nehmen. Die Umstellung benötigt ihre Zeit während eines Werkstattaufenthalts der Waggons (und der Lokomotiven!), da hier einiges geändert werden muß an der Konstruktion der Wagen (Aufnahme der Druckkräfte nun in Wagenmitte statt an den Außenseiten), kann das nicht in kurzer Zeit und nur durch Austausch der Pufferbohle geschehen, und mit einer etwa fünfjährigen Übergangsphase würde ich rechnen.

Im Personenverkehr stellt sich das Problem kaum noch. Die meisten Züge werden ohnehin als Ganzzüge verwendet (und wo im Güterbereich, etwa im Erzetransport, Ganzzüge eingesetzt werden, die man im Betrieb nie trennt, ist auch die Mittelpufferkupplung schon im Einsatz), und wo gekuppelt werden muß, wird zumindest im Triebwagen- und ICE-Verkehr die Scharffenberg-Kupplung verwendet. Ihre Zugkraftübertragung ist allerdings begrenzt - dafür kann in ihr auch die elektrische und pneumatische Verbindung gewährleistet werden -, und sie ist mit der Mittelpufferkupplung des Gütertransports ebensowenig kompatibel wie mit der Schraubenkupplung aus Stephensons Zeiten.

mawa hat gesagt…

Das gibt die Lage vor 10-20 Jahren ganz gut wieder. Es gibt allerdings, wie im Artikel erwähnt, heute Entwürfe automatischer Mittelpufferkupplungen, die so kompakt sind, dass man sie neben der herkömmlichen Zug- und Stoßeinrichtung montieren kann, siehe hier.

Anonym hat gesagt…

Das ist fürwahr eine interessante Konstruktion. Irgendwie fühle ich mich an die Modellbahn erinnert (ja ja... ;)), wo ja auch die Puffer kaum bis keine Druckkräfte aufnehmen müssen, weil de facto die Druckkräfte über Mittelpufferkupplung übertragen werden.
Mit diesem System wäre im Rahmen der Erneuerung des Wagenparks, also geschätzten 20 Jahren, eine nahezu vollständige Umsetzung der Mittelpufferkupplung denkbar.