In Berlin geht es derzeit hoch her. Die S-Bahn, die über Jahre ständig neue Benutzungsrekorde verbuchte und als eines der besseren, wenn nicht besten Schienenverkehrssysteme der Welt gilt, verkehrt mit starken Einschränkungen: Linien sind eingestellt worden oder enden früher, die Züge sind kürzer und fahren in ausgedünnten Takten. Mitfahrzentralen blühen, halbwegs normale Zustände werden wohl erst gegen Weihnachten einkehren. (Normalität ist allerdings relativ, für die nächsten zirka sieben Jahre bleibt ja durch die ständig wechselnden Bauzwischenzustände am Ostkreuz [siehe Prellblog 2] ein unterhaltsames Großhindernis im Netz.) Wie kommt's?
Es geht wieder einmal um das Dauerproblem nicht nur deutscher Züge in diesen Zeiten; das Problem, zu dessen Bewältigung vor über 130 Jahren die Begriffe der Dauerfestigkeit und der Materialermüdung eingeführt und die modernen Materialwissenschaften begründet wurden (durch August Wöhler, einen Eisenbahningenieur): das Problem brechender Achsen und Räder.
Am 1. Mai dieses Jahres ist in Berlin-Kaulsdorf ein S-Bahn-Zug der DB-Baureihe 481 entgleist. Bei dieser Baureihe (inzwischen ein Bombardier-Produkt) handelt es sich um die neuesten, eigentlich ziemlich beliebten, Triebzüge im Retro-Design, Baujahre 1996 bis 2004. Ihr gehören 500 der ca. 685 Züge der S-Bahn an; ihr hat man das ziemlich junge Durchschnittsalter des Berliner Wagenmaterials hauptsächlich zu verdanken.
Die Entgleisung wurde durch eine gebrochene Radscheibe verursacht, und unmittelbar darauf wurde die Untersuchung von Radsätzen an den 481er-Zügen forciert, was zu ersten Fahrzeugknappheiten und damit Fahrplaneinschränkungen führte. Bald darauf ordnete das Eisenbahn-Bundesamt an, 170 Züge bis zur Untersuchung und gegebenenfalls Auswechslung der Radsätze abzustellen; da die Kapazität der Werkstätten für die verlangten Prüfverfahren begrenzt ist, hat dies den Fahrzeugpark drastisch reduziert.
Mittlerweile sind noch schärfere Auflagen verhängt worden, da die Räder wohl weniger aushalten, als ursprünglich angenommen, und der S-Bahn-Betrieb auf der Stadtbahn wird ab Montag eingestellt, auf dem Ring und auf den Außenlinien extrem beschränkt. Die DB hat die Führung der S-Bahn Berlin GmbH ausgetauscht und verspricht den Stammkunden als kleine Entschädigung kostenloses Fahren im Dezember.
Am Horizont kündigt sich aber etwas an, dem gegenüber die Berliner S-Bahn-Achsenprobleme harmlos anmuten: Das Bundesamt möchte, wohl aufgrund des ebenfalls durch einen Achsbruch ausgelösten Kesselwagenunglücks in Viareggio, auch sehr große Anzahlen von Güterwagenradsätzen prüfen lassen. Es ist die Rede von über 100 000 betroffenen Fahrzeugen.
Man erinnert sich noch an den Radsatzbruch bei einem ICE im vergangenen Juli, der wegen verkürzter Wartungsintervalle und verschärfter Untersuchungen über längere Frist zu Einschränkungen und Ersatzverkehren im Fernverkehr geführt hat; man erinnert sich an die seit Jahren andauernden Schwierigkeiten mit den Achsen von Neigetechnik-Nahverkehrstriebwagen, und natürlich an die durch einen gebrochenen Radreifen angestoßene Fehlerkaskade, die zur Katastrophe von Eschede geführt hat. Die Radsätze von Zügen sicher, wirtschaftlich und schnell zu warten ist offenbar nach wie vor eine Herausforderung. Ich fühle mich nicht qualifiziert, dazu Stellung zu beziehen, wie sehr oder wenig der Spardruck in der liberalisierten Bahnwirtschaft diese Probleme verschärft. Man sieht auch, welche Probleme dadurch entstehen, wenn man ein ganzes Eisenbahnnetz ganz oder nahezu ausschließlich mit Fahrzeugen eines Typs betreibt. Es gibt ja immer noch Menschen, die es bedauern, dass seinerzeit nicht der gesamte deutsche Eisenbahnverkehr auf einen einzelnen Typ Universallokomotive umgestellt wurde...
In Berlin wird es auf jeden Fall noch länger unangenehm bleiben, auch wenn mittlerweile angeblich »eine verlässliche Handlungsbasis in der zeitlichen Taktung und Umsetzung der Wiederherstellung der Flottenverfügbarkeit entstanden ist« (Zitat Ulrich Homburg, Vorstand Personenverkehr, DB AG) besteht. Es ist abzusehen, dass die Einstellung der Berliner Politik zur S-Bahn Berlin GmbH sich ändern mag. Zeitweise war schließlich sogar die Kündigung des Verkehrsvertrages im Gespräch gewesen; zumindest für die Neuausschreibung 2017 bzw. die mögliche Teilausschreibung der Nord-Süd-Strecken 2013 könnte es Konsequenzen bedeuten. Bisher war stillschweigend klar gewesen, dass die S-Bahn Berlin GmbH als Gewinnerin einer Neuausschreibung des Gesamtnetzes gesetzt ist. Das scheint vorbei.
Damit es bei aller Planbarkeit nicht langweilig wird, müssen in ganz Deutschland übrigens ab sofort handstreichartig an Dieseltriebwagen des Typs Regio-Shuttle Turbolader, die für Brände verantwortlich zu sein scheinen, getauscht werden. Es sind nicht immer nur die Achsen.
5 Kommentare:
Vielen Dank für Deine doch sehr ausführlichen Überblick über die derzeitige Situation.
Ich als Berliner, welcher täglich intensiv das Verkehrsmittel S-Bahn nutzt bin seit 3 Wochen im Dauerstress um meine Termine einhalten zu können, von den überfüllten Zügen mal ganz abgesehen.
Das einzige was ich jedoch nicht verstehe, ist warum das EBA immer erst anfängt Überprüfungen anzuordnen wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist. Als Aufsichtsbehörde stehen sie eigentlich in der Pflicht schon bei der Abnahme von Fahrzeugen Sachen wie Materialfestigkeit etc testen oder entsprechend zertifizierte Tests vorlegen zu lassen.
Als Stammkunde welcher kein Abo hat, sondern jeden Monat sogar noch mehr Geld durch normale Monatskarten dem Verkehrsverbund in die Tasche steckt, hat man gar nichts vom kostenlosen Fahren im Dezember, dies gibt es nur ausschliesslich für Abo Kunden welche eh nur 11 Monate zahlen und dafür 12 Monate fahren.
Nun ja, als Eisenbahnfan lebt man mit der Situation und hilft den unwissenden Fahrgästen durch Umfahrungstips weiter, denn selbst ohne S-Bahn ist der Berliner Nahverkehr im Vergleich zu anderen Regionen in unserem Lande sehr gut aufgestellt.
Ich freue mich jetzt schon auf die nächsten Wochen wenn die Stadtbahn zwischen Ostbahnhof und Zoo komplett stillgelegt wird,
viele Grüße und in freudiger Erwartung auf Deinen nächsten Blogeintrag
Frank
Zur derzeitigen Zulassungspraxis des EBA kann ich nichts sagen, aber zumindest in der Projektierungsphase der S-Bahn-Baureihe 481 existierte es ohnehin noch nicht in seiner heutigen Form bzw. war noch sehr jung: Die erste Attrappe wurde 1993 vorgestellt, das EBA erst zum 01.01.1994 gegründet, Rollout war 1996.
Wenn man sich die EBA-Pressemitteilungen durchliest, sieht man auch, dass Teile des Problems darin bestanden, dass die S-Bahn Berlin GmbH die selbstgesetzten Austauschintervalle für Radsätze nicht eingehalten hat.
Das einzige, was in Deinem Artikel noch fehlt, ist folgende Passage aus deiner Antwort auf den ersten Kommentar:
"Wenn man sich die EBA-Pressemitteilungen durchliest, sieht man auch, dass Teile des Problems darin bestanden, dass die S-Bahn Berlin GmbH die selbstgesetzten Austauschintervalle für Radsätze nicht eingehalten hat."
Es war völlig klar, dass die Werkstattkapazitäten für verkürzte Prüf- und Austauschintervalle nicht (mehr) existieren, warum dennoch eine freiwillige Selbstverpflichtung vom EBA akzeptiert wurde, ist unbegreiflich.
Werkstätten wurden geschlossen, Mitarbeiter und Maschinen abgebaut, bis jede Unregelmäßigkeit zum Chaos führt.
Das S-Bahnnetz wurde für 730 Viertelzüge ausgelegt, davon gibt es nicht einmal mehr die von dir genannten 685, sondern nur noch maximal 632.
Erschwerend kommt hinzu, dass sämtliche Reserven abgebaut wurden, nachdem durch vertuschte Unfälle 2000 und 2003 die Problematik der Achsen restlos deutlich geworden war.
Der an den Mutterkonzern abgeführte Gewinn der S-Bahn steigt von Jahr zu Jahr exponential, die Belegschaft läuft Sturm, weil alles so kommen musste und die Fahrgäste dürfen zusehen, wo sie bleiben.
Berlin ist das Paradebeispiel dafür, dass der Gewinnmaximierung für den Börsengang alles untergeordnet wird - alles was zwischenzeitlich erreicht wurde, der den bisherigen Erfolg garantierende Service, selbst die Sicherheit.
Wenn das so weiter geht(die Weichen werden selbst in Berlin weiter so gestellt, als wenn nichts passiert wäre!), gibt es nichts mehr zu privatisieren.
Marcus, ich kann deine Quellen nicht einschätzen und kann dir daher weder widersprechen noch dir beipflichten, möchte an dieser Stelle aber darauf hinweisen, dass deine Einschätzung nicht von allen unabhängigen BeobachterInnen geteilt wird. Es hat definitiv auch Herstellerverfehlungen gegeben und die Lehrmeinungen dazu, wann Achsen wie fest sind, scheinen sich in den letzten Jahren ebenfalls verschoben zu haben.
Es ist gut möglich, dass bei der S-Bahn Berlin verschiedene Faktoren in unglücklicher Weise zusammenkommen. Mit der Standarderklärung, "der Börsengang" sei an allem Schuld, sollte man sich zurückhalten.
Aus einem technischen Problem, das dem Hersteller anzulasten ist, wurde über die Jahre ein betriebliches, das der Bahntocher S-Bahn-Berlin GmbH anzulasten ist.
Zweifel an der für die Achsen verwendeten Legierung bestanden schon in den neunziger Jahren.
Die S-Bahn reagierte nicht darauf.
Folgerichtig kam es 2003 zu einem Radbruch.
Statt das Problem anzugehen und den Hersteller in die Pflicht zu nehmen, wurde der Unfall durch die S-Bahn vertuscht.
Trotz dieser und bekannter anderer Schwächen der BR 481/482 wurden seitdem die Wartungsintervalle gestreckt, HU-Fristen verlängert, Werkstattkapazitäten abgebaut, 100Vz. aller Baureihen verschrottet.
Mit anderen Worten: Alles, was eine fast komplette Stillegung der Flotte hätte verhindern können, wurde unterlassen und gestrichen.
Jetzt auf einmal verweist die S-Bahn auf die Verantwortung der Hersteller und das Problem, 4000 Achsen zu beschaffen.
Das könnte alles Schnee von gestern sein, hätte die S-Bahn sich der Probleme rechtzeitig angenommen.
Stattdessen wartete man ab, bis ein Unfall passierte, der nicht mehr vertuscht werden konnte.
Wen interessiert schon die Sicherheit der Fahrgäste?
Oder ein Betrieb, der durch Reserven bei Wagenpark und Werkstattkapazitäten auch während der Lösung bekannter Probleme sichergestellt werden kann?
Es wurde vorsätzlich alles zusammengestrichen, um jedes Jahr höhere Gewinne an den Mutterkonzern überweisen zu können.
Da kam nichts "unglücklich" zusammen.
Es wurde selbst auf Kosten der Sicherheit gespart - der Kontext des Börsengangs liegt wie bei vielen anderen Ungereimheiten bei der DB nahe, auch wenn es u.U. nirgendwo expressis verbis verschriftlicht sein mag.
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