103: Tag und Nacht
Heute konnte man in der Presse lesen, dass die russischen Staatsbahnen (RŽD) einen Auftrag zum Bau 200 schneller, dem RIC-Interoperabilitätsstandard genügender und daher international einsetzbarer Schlafwagen an ein Konsortium aus Siemens und einem russischen Waggonbauer vergeben haben. Die angegebenen 320 Mio. Euro sind wahrscheinlich nur das Volumen des Siemens-Auftragsteils. Das ist schon einiges.
Der Marktoptimist in mir frohlockt bei dieser Nachricht und stellt sich eine nahe Zukunft vor, in der, nach der nächstes Jahr anstehenden EU-Marktöffnung für den Personenverkehr, die RŽD oder eine ihrer Töchter ein ordentliches Netz langlaufender Nachtzüge in West- und Mitteleuropa aufbauen. Denn Nachtzüge, oder besser gesagt, Tag-und-Nacht-Züge, die teilweise Fahrzeiten von mehreren Tagen haben und in der gesamten Zeit nie länger als etwa eine gute halbe Stunde halten, gibt es in Russland, und Reisegeschwindigkeit, Sicherheit und Komfort sind nicht zu verachten - wenn es auch etwas holpert, der gelaschten Gleise wegen. Aus irgendwelchen Gründen werden Aktivitäten russischer Unternehmen in Deutschland zwar in der Öffentlichkeit stets misstrauisch beäugt, aber Schlafwagenzüge dürfen sie meinetwegen gerne fahren.
Das tut nämlich in Europa kaum noch jemand richtig gut. Das Angebot hat sich stark auf den Saisontourismus und Zusatzangebote zu Autozügen verengt und leidet verschiedentlich unter schlechtem Management. Die österreichische Staatsbahn beherrscht die Disziplin angeblich noch sehr gut; in Deutschland sind Nachtzüge Sache der DB AutoZug und dort lässt man sich regelmäßig Tarifregelungen und Angebotsveränderungen einfallen, die nicht immer leicht nachzuvollziehen sind (Halte, bei denen nicht ausgestiegen werden darf z.B.). Was die Sache auch nicht besser macht, ist, dass die Sitzwagen, sofern überhaupt mitgeführt, häufig extrem rappelige alte Abteilwagen sind.
Dabei ist zumindest theoretisch das Potenzial für langlaufende Nachtzüge in Europa immens. Dass die rigiden Sicherheitsbestimmungen bis heute Nachtzüge durch den Kanaltunnel verhindert haben, ist ein erster Schlag ins Kontor (die damals eigentlich für diesen Zweck beschafften Züge fahren heute übrigens als Tagzüge in Kanada und lösen regelmäßig Grübeln aus, warum jemand in Nordamerika Züge mit so kleinem Profil betreibt) - durch Verlängern nach London könnte man diverse Schlafwagendienste nach Paris, Brüssel, Köln und Amsterdam stark ausbauen und viel besser auslasten. Eurotunnel hat ja mittlerweile signalisiert, dass man sich für einfachere Verkehre durch die Röhren einsetzen will; vielleicht tut sich da was.
Wenn man weiterdenkt, den starken Ausbau neuer Schnellstrecken in Westeuropa und die Option für 250 km/h der geplanten russischen Wagen oder die existierenden chinesischen Bombardier-Hochgeschwindigkeits-Schlaftriebzüge berücksichtigt, könnte man sich auch Züge vorstellen, die zum Beispiel Berlin-Madrid oder London-Barcelona leisten, natürlich mit attraktiven Zwischenhalten. Auf der anderen Seite gibt es in Osteuropa bereits (bzw. noch) ein an Schlafwagenzüge gewöhntes Publikum und diverse Verbindungen, die man mit schnelleren Wagen und besseren Strecken tief nach Westen verlängern könnte.
Schön wäre es in der Tat, wenn es irgendwann ein Betreiber hinbekäme, Nachtzüge mit japanischem Komfort (siehe Bild) und 200-250 km/h quer durch ganz Europa zu jagen, von Lissabon nach Moskau und von Edinburgh nach Ankara. Kein Naturgesetz hält uns ab.
Dieser Beitrag erfüllt in gewisser Weise einen anonymen Artikelwunsch vom 19. Dezember letzten Jahres.
Bild: yys747 bei Wikimedia Commons (Details und Lizenz)
2 Kommentare:
Danke für den Artikel. Der anonyme Wunsch, auf den du hier verweist, kam von mir. Wir sind uns in debx ab und zu mal begegnet.
Ich bin wirklich mal gespannt, was da so passiert. Ich träume ja schon länger von einem transeuropäischen Nachtzügenetz.
Hoffentlich bauen sie schön lange Liegeflächen in die neuen Wagen ein. Für große Menschen ist das Angebot in bisherigen Schlaf- oder gar Liegewagen ja nicht wirklich erholsam.
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