57: Vom Wege ab
Ein Eisenbahnfahrzeug fährt normalerweise so, dass die Spurkränze der Räder innerhalb des Schienenpaars liegen (siehe Prellblog 23). Ausnahmen sind extrem selten; auf Anhieb fällt mir da nur die sogenannte »Auflaufkurve« oder »Deutschlandkurve« ein, bei der auf einer Seite des Zuges die Spurkränze absichtlich auf den Schienenkopf gestellt werden, so dass ein engerer Bogen befahren werden kann, als sonst überhaupt möglich wäre.
Insofern ist die häufigste Ausnahme von der Regel der eher unglückliche Zustand der Entgleisung. Vor mittlerweile fast einem Monat, am 26. April, geschah so etwas einem ICE im Landrückentunnel, dem längsten Eisenbahntunnel Deutschlands; Ursache war der Zusammenstoß mit einer Schafherde. Das Prellblog kann das Thema wegen längerer Pause leider erst heute aufgreifen; da die Reparaturarbeiten immer noch nicht abgeschlossen sind, kann es aber als halbwegs aktuell gelten.
Zunächst einmal sind Entgleisungen nicht notwendig katastrophal. Es entgleisen praktisch ständig irgendwelche Schienenfahrzeuge. In den USA gab es im vergangenen Jahr über 1800 Entgleisungen, und anderswo auf der Welt wird das nicht dramatisch anders sein. Oft handelt es sich dabei um kleinere Zwischenfälle; da steht oder liegt dann nicht gleich ein ganzer Zug neben dem Gleis, sondern ein einzelner Wagen oder vielleicht nicht mal das, sondern nur ein, zwei Radsätze, entgleisen. Neben Defekten an Gleisen oder Rädern können Entgleisungen durch zu große Geschwindigkeit in Kurven oder durch sich aufschaukelnde Querschwingungen von Radsätzen entstehen; theoretisch kann auch eine beschädigte Weiche Entgleisungen verursachen, wogegen aber sehr umfangreiche technische Vorkehrungen getroffen werden. An dem Unglück in Eschede war eine Weiche beteiligt, aber diese musste dafür erst durch den bereits beschädigten Zug umgestellt werden.
Absichtlich herbeigeführte Entgleisungen sind sogar Teil des Sicherheitskonzepts der Eisenbahn. Schutzweichen, die ins Leere führen, Sandweichen, die gar keinen abzweigenden Ast mehr haben, und Gleissperren, die einen schweren Abweiser auf eine Schiene klappen, haben letztlich alle die Funktion, Züge aus dem Gleis zu führen. Es bremst einen Zug nämlich recht rasch, wenn die Räder plötzlich nicht mehr auf glattem Stahl rollen, sondern durch Schotter und Schwellen oder eine Betonbettung pflügen - sozusagen die direkte Verwandlung von Bewegungsenergie in Sachschaden. Das hat einige dazu gebracht, in der Polemik um Sinn und Unsinn von Magnetschwebebahnen ein gängiges Argument der Befürworter auf den Kopf zu stellen und zu behaupten, dass die Fähigkeit zur Entgleisung einen großen Vorteil des Systems Eisenbahn darstelle. Immerhin kann ein Zug so einem Hindernis, das er nicht wegschieben kann, ausweichen, statt sich in der Achse des Fahrwegs vor ihm zusammenzufalten.
Dass es nicht erfolgversprechend ist, mit einem Zug eine Tierherde wegschieben zu wollen, bemerkt Jules Verne 1873 in seiner »Reise um die Erde in 80 Tagen«, und auch wenn fünfzig Schafe in einem Tunnel etwas anderes sind als zwanzigtausend Bisons auf der amerikanischen Prärie, hat sich seine Voraussage für diesen Fall im Landrückentunnel bewahrheitet: Der Zug entgleiste und blieb liegen.
Warum genau das alles, wird man noch erfahren. Ich habe im Zusammenhang mit diesem Unglück jedenfalls einige Gedanken:
- Erstaunlich fand ich die Reaktion des Kasseler Verkehrswissenschaftlers Helmut Holzapfel darauf, dass man auf einem Foto der Unfallstelle eine Weiche sehen konnte. Unabhängig davon, ob man seine Meinung teilt, dass Weichen in Tunnels »fast fahrlässig« seien, muss es verwundern, dass ein Fachmann (zudem einer Universität, die quasi direkt an der betroffenen Strecke liegt) gezwungen ist, an Hand eines Bildes darüber zu spekulieren, ob da denn nun wirklich eine Weiche liegt. Selbstverständlich gibt es im Tunnel Weichen, und zwar ungefähr acht Stück; die beiden Überleitstellen sind im Eisenbahnatlas eingezeichnet. Vielleicht hatte Holzapfel einfach keine Zeit, sich auf das Interview vorzubereiten, oder die Formulierungen waren unglücklich.
Geklärt, ob eine Weiche an der Entgleisung beteiligt war, ist noch nicht bekannt. - Forderungen dazu, alle deutschen Bahnstrecken oder zumindest die Tunnelportale einzuzäunen, blieben weniger laut als ich angenommen hätte. (Es gibt Länder, in denen alle Strecken eingezäunt sind, zum Beispiel Großbritannien; anderswo, wie in Frankreich, sind es nur die Schnellfahrstrecken.) Auch hier wieder ungewöhnlich Professor Holzapfels Gegenargument: Die ICE führen in Deutschland ja nicht nur auf Schnellstrecken, sondern überall und man könne ja nicht das gesamte Netz abzäunen. Mir ist nicht ganz einsichtig, warum ICE auf Altstrecken eher Schutz bräuchten als andere Züge, da sie dort auch nicht schneller fahren als diese.
- Insgesamt hielten sich die öffentlichen Reaktionen sehr im Rahmen. Immerhin war der Unfall wirklich eine Beinahekatastrophe; der Zug ist großenteils nicht zur Tunnelwand, sondern zum Nachbargleis hin entgleist, und hätte eventuell von einem Gegenzug erfasst werden können. Man sieht, warum neue Tunnel in Deutschland in der Regel mit zwei Einzelröhren und nicht mehr zweigleisig gebaut werden (siehe z.B. Prellblog 33).
- Auf oder unter Brücken gibt es normalerweise sogenannte Führungsschienen oder »Angstschienen«, ein zusätzliches Schienenpaar zwischen den Fahrschienen, das einen entgleisenden Zug davor bewahren soll, von der Brücke zu stürzen oder einen Pfeiler umzureißen. Als Laie frage ich mich, ob so etwas nicht auch in Tunneln sinnvoll wäre. Andererseits ist ein Zug bei über 200 km/h wohl mit solchen Schienen nicht sehr zu beeindrucken.
- Die DB-Führung war sehr schnell mit Ankündigungen bei der Hand, solche Unfälle in Zukunft verhindern zu wollen. Dazu, wie das genau passieren soll, ist noch nicht viel gesagt worden. Außerhalb von Bahnübergängen wird normalerweise nicht technisch überwacht, ob sich Hindernisse im Fahrweg befinden; anderswo gibt es Reißdrähte oder Signalzäune, die Steinschlag melden können (siehe Prellblog 53), aber gegen Schafe helfen die auch nicht. Ob sich die geforderte Videoüberwachung von Tunnelportalen realisieren lässt, wird man sehen.
Meiner Meinung nach ist es durchaus gerechtfertigt, einen Unfall wie den geschehenen als Restrisiko abzuhaken, sofern sich nicht herausstellen sollte, dass doch irgend ein Fahrzeug- oder Fahrwegdefekt Anteil daran hatte.
Bild: LosHawlos bei Wikipedia (Details und Lizenz)
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