Donnerstag, 20. Dezember 2007

40: Vorne, hinten, überall

Ich weiß nicht genau, wie Kinder heutzutage einen Zug malen. Recherchen dazu im Netz waren ziemlich unergiebig. Es gibt ja die These, dass die Eisenbahn früher stärker Teil des Alltags auch und vor allem von Kindern war als heute; andererseits fahren heute mehr Züge in Deutschland als je zuvor, und durch die flächendeckenden Stundentakte, Schülertickets und so weiter werden zum Beispiel dort, wo ich herkomme, auch Strecken wie die zum Schwimmbad in den Nachbarort mit dem Zug gefahren, die man früher mit dem elterlichen Auto oder dem Rad zurückgelegt hätte. Wie dem auch sei, eine Eisenbahn auf einem Kinderbild hat schätzungsweise hinten Waggons und vorne eine Lokomotive, gerne eine schwarze und qualmende, vielleicht auch mit bloß zwei Achsen, wie sie etwa auch ein Auto hat.
Bei den allerersten Dampflokomotiven war das in der Tat die Regel, aber schon deutlich vor 1840 kamen drei- und vierachsige Maschinen auf, und dann gab es kein Halten mehr, die möglichen Kombinationen von angetriebenen und nicht angetriebenen Achsen an starren oder mehr oder minder gelenkigen Lokomotiven, die Anordnungen der Dampfmaschinen und Schubstangen (der sogenannten Triebwerke) und der Tender, mit denen man sich beschäftigte, um das Gewicht der Lokomotive möglichst vollständig auf die Treibachsen zu bringen, ohne die Gleise zu überfordern oder die Spurhaltung zu gefährden, all das füllt Bände und ist hier nicht das Thema.

Heute sind Lokomotiven in aller Regel nicht mehr dampfgetrieben und, was Achsanordnungen angeht, ziemlich langweilig geworden. Die Lok ruht auf zwei (ganz selten drei, bei Doppellokomotiven vier) Triebdrehgestellen, meist je zwei-, in Ausnahmefällen dreiachsig. Jede Achse hat bei elektrischem Antrieb einen eigenen Motor, bei hydrodynamischem Antrieb sind meistens die Achsen eines Drehgestells an einem Sammelgetriebe zusammengefasst. Viel mehr muss man eigentlich gar nicht wissen.
Die Idee des Triebdrehgestells, in dem große Teile des Antriebs verbaut sind, verleitet natürlich zu der Frage, warum man überhaupt noch eine Lokomotive braucht und nicht einfach den ganzen Zug auf Triebdrehgestelle setzt. Und in der Tat ist es im Personenverkehr nicht mehr die Regel, dass ein Zug aus einer Lokomotive und Wagen besteht. Die allermeisten Nahverkehrszüge sind Triebzüge, das heißt, gelenkige Einheiten, bei denen ein mehr oder weniger großer Anteil der (praktisch ausnahmslos zweiachsigen) Drehgestelle angetrieben ist. Die Technik, die man außerhalb der Drehgestelle braucht (Schalter, Trafo, Umrichter beziehungsweise Dieselmotoren, Getriebe, Tanks und Auspuffanlagen; in jedem Fall Kühlsysteme), hängt man unter den Fußboden, packt sie aufs Dach oder versteckt sie in unschuldigen Schränken im Fahrgastraum. Ein anderes Wort für Triebzug ist Triebwagen - wobei Haarspalter den Unterschied machen, dass Triebwagen keine Gelenke haben oder höchstens eins. Ganz einig sind die sich auch nicht.
Die Sache hat den Vorteil, dass man mehr Fahrgäste pro Meter Zuglänge (und damit Bahnsteiglänge) unterbringen kann, vor allem aber, dass sich das Gesamtgewicht optimal auf die Achsen verteilt und sich der Zug damit insgesamt leichter bauen lässt. Außerdem ist (außer bei Straßenbahnen) jeder Triebzug ein Wendezug, das heißt, er hat an jedem Ende einen Führerstand und der Fahrtrichtungswechsel erfordert kein Rangieren.

Interessanterweise hält sich ausgerechnet im Hochgeschwindigkeitsverkehr, wo das Triebzugkonzept seine Vorteile voll ausspielen kann -bei den japanischen Vorreitern waren schon 1964 alle Achsen angetrieben-, hartnäckig eine Art getarnte Form von lokbespanntem Zug, nämlich der sogenannte Triebkopfzug, bei dem ein oder zwei im Design dem Zug angeglichene und betrieblich nicht von ihm trennbare Lokomotiven in den Zugverband eingegliedert sind. Die ersten ICE und die aktuellen TGV haben einen Triebkopf an jedem Ende, die zweite Generation ICE nur einen (ist dafür aber auch einzeln fahrend nur halb so lang). Bei den frühen TGV kam zu den Triebköpfen noch je ein Triebdrehgestell im ersten Wagen (konzeptuell ähnlich den »Booster«-Dampftriebdrehgestellen mancher amerikanischer Güterzug-Dampfloks, siehe auch Abbildung). Der britische APT verdankte seine Erfolglosigkeit wohl auch der Tatsache, dass seine beiden Trieb-»Köpfe« in der Mitte des Zuges angeordnet waren und diesen in zwei Hälften teilten, von denen jede eigenes Personal brauchte.

Die Entwicklung zu Triebzügen im Personenverkehr scheint aber unaufhaltsam; die letzten ICE sind allesamt welche, die nächsten TGV werden sich vermutlich auch in die Richtung entwickeln, und im deutschen Nahverkehr halten sich eigentlich nur die Doppelstockzüge als lokbespannt, was aber auch daran liegt, dass man in Doppelstocktriebzügen die Antriebstechnik nicht mehr aufs Dach oder unter den Boden verlegen kann und daher kaum einen Platzvorteil gegenüber Zügen mit Lok hat.

In gewissen Nischen halten sich die »normalen« Züge aber hartnäckig. Der Stab über den lokbespannten InterCitys ist beispielsweise noch lange nicht gebrochen. Den Nachteil, dass der Fahrtrichtungswechsel Rangieren erfordert, hat man weitgehend aus der Welt geschafft, indem alle modernen Lokomotiven fernsteuerbar sind und es spezielle Steuerwagen gibt, mit denen man sie vom anderen Zugende her bedienen kann. Damit gibt es heute fast keine Personenzüge mehr, die keine Wendezüge sind. Auch sonst hat sich vieles getan - damit wird sich das Prellblog in zwei Wochen auseinandersetzen.

Bild: 1922 Locomotive Cyclopedia, über Matthew Brown bei Wikimedia Commons (Details und Rechtefreigabe)

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