Dienstag, 29. Dezember 2009

117: Gummibahn

Busfahren mögen die meisten Leute weniger als Bahnfahren. Da kann man sich relativ sicher sein. Woran das genau liegt, ist nicht ganz geklärt - vermutlich ist das üblicherweise etwas bessere Raumangebot, die meist ruhigere Fahrt und das häufigere Vorhandensein von Toiletten ebenso beteiligt wie das meist niedrigere Fahrgeräusch im Innenraum -, aber es ist so. Ceteris paribus werden ein Bahnangebot auf einer Strecke mehr Fahrgäste nutzen als ein von Fahrzeiten, Halten und Kapazität identisches Busangebot.


Aber diese Situation gibt es in Deutschland fast nirgendwo. Abgesehen davon, dass es keine Busse mit 920 Sitzplätzen gibt und die Kapazitätsgleichheit somit schwer zu realisieren ist, fahren nur auf ganz wenigen innerdeutschen Strecken überhaupt Busse parallel und mit vergleichbarer Geschwindigkeit zu Bahnen.
Im bestellten Nahverkehr ist das nicht weiter überraschend, da die Aufgabenträger für ihr Geld besseres bekommen können als zwei verschiedene Verkehrsmittel, die dieselbe Strecke fahren. Dort wo dasselbe Ziel sowohl mit Bus- als auch mit Bahnnahverkehr erreichbar ist, fahren die Busse meistens auf dem Weg Orte an, die keine Bahnzugangsstelle haben, und verknüpfen diese auf diese Weise an einigen Knotenpunkten mit der (in der Regel) schnelleren Eisenbahn.
Aber was ist mit dem eigenwirtschaftlichen Fernverkehr? Warum versuchen außer auf einigen wenigen Strecken (zum Beispiel denen nach Berlin) keine Busunternehmer der Eisenbahn Konkurrenz zu machen?

Weil es verboten ist.
Das Personenbeförderungsgesetz bestimmt, dass die Einrichtung von Bus-, Obus- und Straßenbahnlinienverkehren genehmigungspflichtig ist (ebenso wie übrigens die Einrichtung von Taxibetrieben), und die Genehmigung wird unter anderem dann nicht erteilt, wenn die geplanten Verkehre bereits von bestehenden Verkehrsmitteln (hier ist die Eisenbahn eingeschlossen) befriedigend erledigt werden. Faktisch bedeutet dies einen Bestandsschutz für öffentliche Personenverkehrslinien und ein Verbot, der Eisenbahn Konkurrenz zu machen, solange diese Konkurrenz. Eine weitere Klausel regelt auch, dass sich Nahverkehre, auch wenn sie jemand auf eigenes Risiko betreiben mag, in einen eventuell bestehenden Nahverkehrsplan zu fügen haben. Die Fernbuslinien, die tatsächlich in Konkurrenz zur Bahn stehen, verdanken sich unter anderem den Tagen, als sie noch der Sicherstellung des öffentlichen Transitverkehrs nach West-Berlin dienten, oder aber der Anbindung von Flughäfen ohne Eisenbahnanschluss und Ähnlichem.
Wenn man den Behauptungen unserer neuen schwarz-gelben Koalition glauben schenken darf, ist die Genehmigungspflicht für öffentliche Verkehre aber schon angezählt und es wird bald freie Konkurrenz zwischen Bahnen und Bussen geben. Dieses Ziel hat die FDP zumindest im Koalitionsvertrag verankert, es hat aber auch noch andere Freunde, zum Beispiel den nicht gerade als blaugelb angemalt geltenden Verkehrsclub Deutschland.

Und was passiert, wenn es passiert?
Die einen frohlocken, weil sie einen Preis- und Qualitätskampf zu Gunsten der Fernverkehrskunden erhoffen, oder vielleicht eine Abwertung des ihrerseits gefühlt zu starken Standes des Bahnverkehrs im Staatshaushalt; die anderen befürchten das Eingehen von Bahnrelationen, und wie immer das »Abgehängtwerden ganzer Regionen«. Da noch niemand genau weiß, ob und wann die Liberalisierung denn kommt und was die neuen Fernbusse dann kosten werden (das Kostenniveau der wenigen heute ohne große Binnenkonkurrenz fahrenden Fernbusse wird wohl unterboten werden) und welche Spielräume der faktische Fernverkehrsmonopolist DB zur Preis- und Kostensenkung hat, kann man zum Thema Preiskampf noch nicht viel sagen. Auch die Qualität, mit der die Betreiber gegebenenfalls an den Start gehen werden, ist unklar. Klar ist hauptsächlich, dass die mögliche Gefäßgröße pro Fahrer um eine Größenordnung unter dem liegt, was bei der Bahn erreicht wird, und Linien mit großem Verkehrsaufkommen daher kaum fürchten müssen.
Eventuelle privatwirtschaftliche Fernbusse auf weniger frequentierten Strecken werden aber zwangsläufig, ganz gleich ob sie den DB-Fernverkehr (sofern noch bestehend) schädigen, gegen den bestellten Schienen- und Straßenpersonennahverkehr antreten, und da wird es dann spannend. Einmal haben Fernbusse, wenn man ihnen zum Beispiel nicht einen unrealistisch hohen minimalen Haltestellenabstand vorschreibt, das Potenzial, die Einnahmen von mischkalkulierten Verkehrsnetzen zu schwächen, indem sie lukrative Einzelrelationen mitnehmen. Welcher von Frankfurt am Main abfahrende Fernbus wird keinen Extrahalt am Flughafen einlegen? Zum anderen ist nicht ganz klar, ob die billigen Gruppen- und Einzeltickets (vor allem Ländertickets), die auf der Schiene eine hochsubventionierte Form von relativ fernem Reisen erlauben, von privaten Fernbusbetreibern ausreichend überboten werden können.

Ich persönlich bin weder Wirtschafts- noch Verkehrswissenschaftler, aber meine persönliche Prophezeihung ist die: Wenn der Fernbusverkehr liberalisiert wird und die vermutlich jahrelangen gerichtlichen Nachbeben einer solchen Entscheidung einigermaßen verebbt sind, wird es immer noch Eisenbahnfernverkehr in nahezu unverändertem Umfang geben, die Preisstruktur im öffentlich finanzierten Nahverkehr wird sich deutlich geändert haben - aber komplett geändert haben wird sich der Markt für bezahlte Mitfahrgelegenheiten. Die sind meines Erachtens die einzigen sicheren etwaigen Liberalisierungsopfer.

Bild: »roccocell« bei Flickr (Details und Lizenz)

Montag, 21. Dezember 2009

116: Halbleitertechnik

Züge dürfen nicht zusammenstoßen - weder mit nachfolgenden Zügen noch mit Gegenzügen noch mit seitlich in ihre Fahrstraße einfahrenden Zügen. (Am besten auch nicht mit Autos.) Wie das in Deutschland üblicherweise so gewährleistet wird, habe ich in früheren Beiträgen besprochen (vgl. Prellblog 52, Prellblog 53, Prellblog 58, Prellblog 61 und Prellblog 80); im Großen und Ganzen ist die Idee dabei, dass Züge, sofern für sie die Signale auf Fahrt stehen, selbstständig fahren und halten können, wie es der Fahrplan vorsieht, ohne das jedes Mal eigens abzuklären; wann immer irgend etwas dem Zug im Wege stehen könnte, wird technisch sichergestellt, dass es dann eben nicht möglich ist, das betreffende Signal zu ziehen. Der Aufwand ist dabei erheblich.

Da Eisenbahnen schon unter Spardruck stehen, seit es sie gibt, hat man auch der Alternative zu diesem System Beachtung geschenkt. Wie wäre es denn, wenn ein Zug einfach nur mit besonderer Erlaubnis losfahren dürfte und irgendwo zentral Buch darüber geführt würde, wo Züge gerade sind? Dann könnte man doch Strecken betreiben ohne all die Technik? Für eingleisige Nebenstrecken, die nicht besonders schnell befahren werden, potenziell also über den Daumen gepeilt vierzig Prozent des deutschen Eisenbahnnetzes, taugt das Prinzip tatsächlich. Es hört auf den Namen Zugleitbetrieb und beruht darauf, dass über systematische, streng formatierte Meldungen eine Zentralstelle mit den Zügen kommuniziert, diesen mitteilt, wann sie wohin fahren dürfen, und von ihnen erfährt, wann sie wo angekommen sind. Eine Low-Tech-Lösung, die erstaunlich flexibel ist, wenn man den Strecken keine allzu hohe Kapazität abverlangt: Weichen für Zugkreuzungen (es geht hier schließlich nur um eingleisige Strecken) stellt das Personal des ersten eingefahrenen Zuges für den zweiten, der danach mit der Hupe des ersten Zuges in den Bahnhof hineingerufen wird; etwas eleganter sind spezielle sogenannte Rückfallweichen (Bild), die dauerhaft in ihrer Grundstellung verbleiben und es im Gegensatz zu normalen Weichen verkraften, ohne Schäden und ohne Umspringen von Zügen aus dem Gleiszweig befahren zu werden, der nicht eingestellt ist.

Die Kehrseite der Medaille ist, dass alles an den Menschen hängt, die da telefonieren und die Hefte führen. Nach diversen Unglücken ist die Konsequenz gewesen, dass rein manueller Zugleitbetrieb nicht mehr neu eingerichtet wird. Das heißt nicht, dass das Konzept gestorben wäre, ganz im Gegenteil; aber man bohrt es auf, indem man technische Sicherungseinrichtungen hinzufügt. Von einfachen Gleisschwingkreisen, die mit Achszählern kommunizieren und damit einen Zug zwangsweise anhalten, wenn er in einen besetzten Abschnitt hinein anfahren möchte (alles ohne sichtbare Signale!) bis hin zu kompletten Leit- und Sicherungssystemen mit computerisierter Zentrale, die für den Laien kaum von einer »normal« geführten Strecke mit elektronischem Zentralstellwerk zu unterscheiden sind, gibt es eine enorme Bandbreite an möglicher technischer Unterstützung. Die Kurhessenbahn hat beispielsweise vor knapp drei Wochen in Kassel eine Zugleitzentrale eröffnet, in der die Zugleiter vor siebzehn Flachbildschirmen sitzen und ganz ähnlich arbeiten wie Fahrdienstleiter in einer Betriebszentrale; Unterschiede gibt es beispielsweise darin, wie im Störungsfall vorgegangen wird, da die Verbindungen zu den Signalen und Weichen nicht sicher sind und daher besondere Mitwirkung des Zugpersonals benötigt wird.

In letzter Zeit geht die Entwicklung daher von den verschieden technisch unterfangenen Formen des Zugleitbetriebs wieder hin zu einfach gehaltenen, günstigen elektronischen Zentralstellwerken herkömmlicher Manier. In jedem Fall geht es darum, auf Nebenstrecken bezahlbare und wenig personalintensive Betriebstechnik zu installieren; die typische Folge ist, dass Strecken, die bis dahin aus Kostengründen ausgedehnte Betriebsruhen hatten (wer will schon für zwei zusätzliche Abendzüge eine zusätzliche Schicht Bahnhofspersonal in zehn Dörfern bezahlen?), rund um die Uhr und sieben Tage die Woche genutzt werden können. Zwar werden bei solchen Umbauten meistens auch Weichen entfernt; aber eine Wahl zwischen einem Freilichtmuseum mit gigantischer Kapazität, aber ohne Sonntags- und Nachtverkehr, und einer 24/7 auf mäßigem Niveau nutzbarer Strecke fällt den Aufgabenträgern in Deutschland meistens nicht schwer.

Bild: »Rolf-Dresden« bei Wikimedia Commons (Details und Lizenz)

Montag, 14. Dezember 2009

115: Neuigkeiten 2009/2010

Von vorgestern auf gestern war wie jedes Jahr Fahrplanwechsel, und genau wie letztes Jahr (siehe Prellblog 76) gibt es auch diesmal wieder eine Übersicht über die wichtigsten Änderungen, diesmal allerdings nur acht:

  1. Das zweite Gleis zwischen dem Tiefbahnhof Köln-Deutz und dem Abzweig Gummersbach ist fertiggestellt, ein Baustein der leider jetzt erst allmählich nachtröpfelnden leistungsfähigen Einbindung der Schnellstrecke Köln-Frankfurt in den Knoten Köln. Im Endausbau, wozu auch die fehlenden Gleise von Gummersbach bis zum Abzweig Steinstraße gehören, wird Köln-Deutz ein vollwertiger Fernverkehrsknoten sein, der den Hauptbahnhof von den durchgehenden Schnellverkehren ins Ruhrgebiet entlasten soll. Aber dies wird leider noch mindestens etwa sieben Jahre auf sich warten lassen.
  2. Die Deutsche Bahn hat das Netz der unteren Fernverkehrskategorie (InterCity/EuroCity) ziemlich überraschend ausgebaut, indem neue Halte in Tübingen, Reutlingen, Nürtingen, Metzingen, Siegen, Wetzlar, Hünfeld, Schlüchtern, Neuss, Mönchengladbach, Rheydt, Herzogenrath, Leinefelde, Heiligenstadt, Sangerhausen und Nordhausen geschaffen wurden (Angaben ohne Gewähr!). Ebenfalls der Attraktivierung des IC-Netzes dienen soll die Führung der InterCitys zwischen Hannover und Göttingen über die Neubaustrecke statt durchs Leinetal. Leider führt die Fahrzeitkürzung im Norden weiter südlich auf der Main-Weser-Bahn zu Fahrplanverschlechterungen, von denen auch ich als Marburger betroffen sein werde. Aber alles in allem ist es erfreulich, dass die DB endlich einmal deutlich ihr Interesse am Ausbau auch des Nicht-ICE-Fernverkehrs dokumentiert hat und damit den üblichen Verdächtigen, die seit Jahren prophezeien, das IC-Netz sei zur vollständigen Einstellung vorgesehen, etwas das Wasser abgräbt.
  3. DB und ÖBB führen fünf neue EuroCitys ein, die von München über den Brenner nach Bozen, Verona, Bologna und Mailand fahren. Wie schon auf Schweizer Seite wird hier das Bestreben deutlich, die Italienverkehre zukünftig möglichst ohne italienische Beteiligung abzuwickeln, was angesichts der fragwürdigen Leistungen von Trenitalia beziehungsweise Cisalpino durchaus verständlich erscheint.
  4. Auch das ICE-Netz wird allerdings erweitert, vor allem im touristischen Sinne - mit Zügen nach Innsbruck, die unter anderem Tutzing am Starnberger See und Oberau bedienen werden, nach Garmisch-Partenkirchen und nach Rostock/Warnemünde.
  5. In Regie der Hessischen Landesbahn wurde ohne großes öffentliches Aufsehen die sechs Kilometer lange Stichstrecke von Eschwege West nach Eschwege wieder hergestellt, elektrifiziert sowie mit moderner Signaltechnik und zwei neuen Zugangsstellen ausgestattet. Dabei wurden unter anderem alte Steinbrücken bildhübsch saniert und neue Brücken erstellt, der Aufwand war also nicht gerade gering. Der nagelneue zweigleisige Kopfbahnhof Eschwege hat ein Empfangsgebäude und ein Parkhaus, das Umfeld wurde ebenfalls komplett umgestaltet. Die Kreisstadt und Niederhone haben somit nach 24 Jahren wieder eine Bahnanbindung, die diesen Namen verdient.
  6. Neuenburg am Rhein hat ebenfalls wieder einen regulären Bahnanschluss, diesmal nach 29 Jahren Pause; seit 1980 fuhren nur Sonderverkehre, jetzt werden Taktzüge dorthin verlängert. Hierzu wurde auch einiges an der Signaltechnik verändert.
  7. Die Stuttgarter S-Bahn hat mit der Strecke Plochingen-Kirchheim/Teck fast 13 neue Netzkilometer hinzugewonnen. Hier wurde elektrifiziert, Signaltechnik und Gleisanlagen angepasst sowie Bahnsteige modernisiert.
  8. Ähnliches geschah auf der Elsenztalbahn Heidelberg-Sinsheim. Sie ist nach erfolgter Elektrifizierung und weitgehendem Umbau der Bahnsteige nun in die S-Bahn RheinNeckar eingebunden, allerdings handelt es sich dabei noch längst nicht um den Endzustand, da in der Ecke noch ziemlich viel geplant ist.
Auch einige unangenehme Überraschungen hat der Fahrplanwechsel gebracht. Da derzeit beim Eisenbahnbundesamt einiger Trubel herrscht, was Fahrzeugzulassungen und Standards beispielsweise für Bremsen und Radsatzwellen angeht, und es auch sonst Liefer- und Zulassungsprobleme gibt, konnten einige recht groß angelegte Übernahmen von Regionalverkehren durch neue Fahrzeuge nicht pünktlich geschehen und es müssen teilweise noch über Monate Ersatzverkehre gefahren werden. Dies betrifft unter anderem die neu von der Eurobahn übernommenen Regionalexpresse in Nordrhein-Westfalen sowie die Berchtesgadener Land Bahn.
Im selben Zusammenhang muss man wohl die Ankündigung der DB sehen, im neuen Jahr eine »Generalüberholung« von ICE-Zügen mit kurzfristigem Ersatzfahrplan durchzuführen, was es so auch noch nicht planmäßig gegeben hat.

Bild: Marco / Zak bei Flickr (Details und Lizenz)

Montag, 7. Dezember 2009

...

Es ist jetzt in letzter Minute noch ein weiterer Schicksalsschlag dazugekommen. Die Termine verschieben sich noch einmal.

Mittwoch, 2. Dezember 2009

Fahrt erwarten

Es ist noch viel knüppeldicker gekommen, als im letzten Beitrag angekündigt, aber jetzt sind die Schicksalsschläge verarbeitet, die Gespräche geführt und die Deadlines eingehalten - ich hoffe, binnen kurzem wieder ein reguläres Prellblog bringen zu können.


Eine kleine Themenvorschau:
  • 115 (7.12.): Vorschau auf den großen Fahrplanwechsel
  • 116 (14.12.): Zugleitbetrieb - was heißt das und wo kann ich es kaufen?
  • 117 (21.12.): Überlegungen zu einer möglichen Liberalisierung des Fernbusverkehrs
Alle Termine ohne Gewähr!

Montag, 16. November 2009

Unbestimmte Zeit

Aus verschiedenen privaten und akademischen Gründen bleibt das Prellblog bis mindestens Anfang Dezember geschlossen. Weiter geht es dann entweder mit der Berichterstattung zum großen Fahrplanwechsel oder mit weiteren Überlegungen zur Verkehrspolitik der neuen deutschen Bundesregierung.

Montag, 9. November 2009

114: Zum Tage

Aktive Eisenbahnstrecken queren heute die ehemalige deutsch-deutsche Grenze zwischen Lübeck Sankt Jürgen und Herrnburg, zwischen Büchen und Schwanheide, zwischen Schnega und Salzwedel, zwischen Vorsfelde und Oebisfelde, zwischen Grasleben und Weferlingen, zwischen Helmstedt und Harbke, zwischen Vienenburg und Stapelburg, zwischen Walkenried und Ellrich, zwischen Eichenberg und Arenshausen, zwischen Herleshausen und Wartha an der Werra, zwischen Wildeck-Obersuhl und Gerstungen, zwischen Wildeck-Bosserode und Wildeck-Hönebach, zwischen Widdershausen und Dankmarshausen, zwischen Heimboldshausen und Unterbreizbach, zwischen Mellrichstadt und Rentwertshausen, zwischen Neustadt bei Coburg und Sonneberg in Thüringen, zwischen Ludwigsstadt und Probstzella sowie zwischen Feilitzsch und Gutenfürst.
In Bau ist eine weitere Querung zwischen Rödental und Theuren.
In Berlin schneiden Bahnstrecken die ehemaligen Grenzen von West-Berlin zur DDR und zu Ost-Berlin zwischen Schönhauser Allee und Gesundbrunnen, zwischen Frohnau und Hohen Neuendorf, zwischen Heiligensee und Hennigsdorf, zwischen Staaken und Nennhauser Damm, zwischen Wannsee und Potsdam Griebnitzsee, zwischen Lichterfelde Süd und Teltow, zwischen Lichtenrade und Mahlow, zwischen Köllnische Heide und Baumschulenweg, zwischen Sonnenallee und Treptow sowie im Nordbahnhof und in Friedrichstraße und an wie vielen anderen Stellen auch immer - es ist bezeichnend, dass es mir nicht gelungen ist, im Rahmen meiner heute Abend begrenzten Möglichkeiten eine lückenlose Liste der durch den Mauerbau zerrissenen Bahnverbindungen im Inneren Berlins zu finden.

Heute stillgelegte Strecken mit Querungen der ehemaligen Grenze verlaufen zwischen Mustin und Groß Thurow, zwischen Hollenbek und Zarrenthin, zwischen Preten und Brahlstorf, zwischen Dannenberg Ost und Dömitz, zwischen Lübbow und Bürgerholz, zwischen Wittingen und Waddekath-Rade, zwischen Zasenbeck und Hanum, zwischen Rühen und Oebisfelde, zwischen Wahrstedt und Oebisfelde, zwischen Bahrdorf und Dören, zwischen Schöningen und Völpke, zwischen Schöningen-Süd und Hötensleben, zwischen Jerxheim und Gunsleben, zwischen Jerxheim und Dedeleben, zwischen Mattierzoll-Ost und Veltheim (Fallstein), zwischen Hornburg und Bühne-Rimbeck, zwischen Vienenburg und Schauen, zwischen Eckertal und Stapelburg, zwischen Brunnenbachsmühle und Sorge, zwischen Unterzorge und Königstuhl, zwischen Zwinge West und Zwinge, zwischen Duderstadt und Teistungen, zwischen Schwebda und Großtöpfer, zwischen Schwebda und Geismar, zwischen Feldmühle und Normannstein, zwischen Feldmühle und Treffurt, zwischen Heldra und Treffurt, zwischen Philippstal und Vacha, zwischen Treischfeld und Wenigentaft-Mansbach, zwischen Günthers und Motzlar, zwischen Tiefenlauter und Görsdorf in Thüringen, zwischen Neustadt bei Coburg und Heubisch-Mupperg, zwischen Fürth am Berg und Heubisch Mupperg, zwischen Burggrub und Neuhaus-Schierschnitz, zwischen Pressig-Rothenkirchen und Heinersdorf, zwischen Schauberg und Heinersdorf, zwischen Ludwigsstadt und Lehesten sowie zwischen Lichtenberg in Oberfranken und Blankenstein an der Saale.
In Berlin verlaufen stillgelegte Strecken über die ehemaligen Grenzen zwischen Bürgerablage und Nieder Neuendorf sowie zwischen Lichtenrade Ost und Großziethen. Strecken, über deren Reaktivierung diskutiert wird, queren zwischen Wannsee und Dreilinden sowie zwischen Düppel und Potsdam Griebnitzsee.

Alle Angaben ohne Gewähr.

Herzlichen Glückwunsch.

Bild: Günter Mach bei Wikimedia Commons (vollständiges Bild, Details und Lizenz)

Freitag, 6. November 2009

113: Steter Tropfen

Wettbewerb im Eisenbahn-Fernverkehr ist in Deutschland in größerem Stil nicht zu beobachten (hierzu siehe auch Prellblog 100). Das ist seit der Bahnreform so gewesen, auch wenn sich gewisse Nischenangebote halten und immer wieder kleinere Vorstöße gemacht werden, die dann meist umgehend scheitern.
Derzeit sind gerade wieder zwei solche Vorstöße in Vorbereitung, mit gar nicht so unerheblichem Medienecho, und vielleicht läuft es diesmal etwas anders.

Da ist zum einen die locomore rail GmbH, die mit Unterstützung der amerikanischen Eisenbahn-Investitionsgesellschaft RDC und des britischen Investors Michael Schabas einen "Hamburg-Köln-Express" plant, ab 2010 zu fahren mit einigen (wohl fünf) aufgearbeiteten alten österreichischen Intercity-Triebzügen. RDC ist bisher eher mit Joint Ventures in Schwellen- und Entwicklungsländern aufgefallen, hat aber immerhin in den vergangenen fünf Jahren erfolgreich genug operiert, um das Personal in der Pittsburgher Zentrale um 50 Prozent aufzustocken - von vier auf sechs Köpfe. Schabas ist ein klangvoller Name in der britischen Eisenbahnbranche, der bei nahezu allen größeren Londoner Bahnentwicklungsprojekten der letzten 20 Jahre seinen Finger ebenso in der Suppe hatte wie bei der Entwicklung der Kanaltunnelanbindung mit der neuen Endstation St Pancras International, und der auch bereits als Entwickler von Verkehrsunternehmen im liberalisierten britischen Bahnmarkt aufgetreten ist. Der geplante Zug soll die Strecke Hamburg-Köln in 4 h 13 min zurücklegen und ist damit etwas langsamer als der InterCity der DB (4h 00 min bis 4 h 08 min). Über die Geschwindigkeit wird der Betreiber also nicht punkten können, dafür wurden "attraktive Preise" deutlich unter DB-Niveau angekündigt und "mehrere Komfortzonen" soll es auch geben. Wegen Trassenbelegung umfahren die Züge Bremen und halten in Sagehorn, wo man sich jetzt schon über die neue Direktverbindung freut. Dies erinnert mich persönlich ungut an die überschwängliche Begrüßung des seinerzeitigen InterConnex 3 in gewissen Städten, aber man soll ja nicht pessimistisch sein.

Zum anderen will ab 2011 die SCNF-Tochter Keolis ebenfalls mit gebrauchtem Rollmaterial Züge nach Hamburg fahren, allerdings von Straßburg aus und auf gleich zwei Strecken, nämlich durch Rhein-Ruhr sowie über Berlin. Genaue Fahrpläne sind hier meines Wissens noch nicht bekannt, aber es soll gleich mit zwanzig Zügen gefahren werden und die Trassen sind schon per Rahmenvertrag bis 2015 bestellt.

Die drei zu erwartenden Reaktionen sind auch tatsächlich eingetreten:

  1. Unter den üblichen Verdächtigen wird sofort besprochen, warum Wettbewerb im Fernverkehr nur Nachteile bringen könne, inklusive sofortiger Erfindung despektierlicher Uznamen für die neu antretenden Firmen.
  2. In rein spekulativ und möglicherweise von den neuen Zügen bedienten Orten, die derzeit nicht an das rotweiße Netz der DB angeschlossen (also auf Lokalzeitungsdeutsch "abgehängt") sind, lässt man schon die Sektkorken knallen, bevor die Fahrpläne überhaupt feststehen.
  3. Die Empörung über "die Franzosen", die im eigenen Lande protektionistisch agierten und in Deutschland turbokapitalistische Raubzüge planten, kocht hoch, in völliger Verkennung der Tatsache, dass die DB schon längst angekündigt hat, auf der Rhein-Rhône-Neubaustrecke eigene Züge in Konkurrenz zur SNCF fahren lassen zu wollen. Ulrich Homburg vom DB-Fernverkehr qualifiziert sich mit waschechter Kriegsrhetorik ("im Krieg gibt es keine Gewinner"), womit er eventuell frühere Glanzleistungen als sprechender Aktendeckel (siehe Prellblog 101) kompensieren wollte.
Ich selbst kann derzeit nur sagen:
  • ad 1: Solange die Tarifmodalitäten der neuen Züge nicht feststehen, lassen sich überhaupt keine Aussagen über potenzielle Auswirkungen auf den deutschen Eisenbahnmarkt treffen.
  • ad 2: Wer sich zu früh freut, ist selber schuld, HKX fährt keine Dörfer an und SNCF/Keolis haben auch schon angekündigt, sich "nicht nach den faulen Äpfeln bücken" zu wollen.
  • ad 3: Den eigenen Markt früh zu öffnen hat der deutschen Wirtschaft und Politik selten geschadet; der beliebte Subtext, Deutschland müsse als bevölkerungsreichstes Land, größte Wirtschaftsmacht und oberster Beitragszahler der EU irgendwie gegenüber "weniger wichtigen" Ländern das Recht haben, sich dreimal bitten zu lassen, statt mit gutem Beispiel voranzugehen, scheint mir da die größere Motivation als das tatsächlich alles andere als lupenreine ordnungspolitische Gebaren im französischen Eisenbahnsektor.
  • Es wird spannend!
Bild: Ron Reiring ("kla4067") bei Flickr (Details und Lizenz)

Dienstag, 27. Oktober 2009

Langläufer

Da ich übers Wochenende verreist war und der ganze Tag gestern zum Erholen draufging, verschiebt sich der Beitrag auf mindestens morgen. Dafür habe ich gestern die Recherche für einen eher ungewöhnlichen Artikel angestoßen, der dem Prellblog eventuell sogar das erste Interview bescheren könnte.

Montag, 19. Oktober 2009

112: Das Bildungssystem

Maschen, ein größeres Dorf am Rand der Lüneburger Heide, ist ein durch die A250 zweigeteilter Ort, der unter Nichtkennern der Eisenbahn höchstens dafür bekannt ist, dass dort der wilde, wilde Westen anfängt. Dass ausgerechnet dort vor vier Tagen eine Baumaßnahme im Volumen von nahezu einer Viertelmilliarde Euro, bei der unter anderem 120 Kilometer Gleis erneuert werden sollen, angelaufen ist, klärt sich erst beim Blick auf eine Luftaufnahme.

Da entpuppt sich der Ort selber nämlich als geradezu nebensächliches Anhängsel an einem riesigen, doppelten Bündel von Gleisen, das sieben Kilometer lang und siebenhundert Meter breit in der norddeutschen Tiefebene liegt, und auf dem sich aus der Luft viele kleine bunte Güterwagen erkennen lassen. Maschen ist Heimat des zweitgrößten Rangierbahnhofs der Welt und des größten Europas.

Rangierbahnhöfe hat man bereits einmal für grundsätzlich überholt gehalten, und in vielen Ländern gibt es gar keine mehr. Dies liegt an der Natur ihrer Tätigkeit und am Strukturwandel des Eisenbahngüterverkehrs.
Ein Rangierbahnhof löst das Problem, dass Güter auf der Bahn von vielen Orten in unterschiedlichen Mengen versandt und an viele Orte ausgeliefert werden, Züge aber umso wirtschaftlicher fahren, je länger sie sind. Dies geschieht dadurch, dass Wagen an verschiedenen Orten eingesammelt, in einem gemeinsamen Zug zu einem Rangierbahnhof geschickt werden, dass dieser dort zerlegt und auf neue Züge verteilt wird, die dann die Weiterverteilung übernehmen.
Die technische Realisierung dieses Auftrags gehört dabei zum Imposantesten, was die Eisenbahn zu bieten hat. Das Grundprinzip besteht darin, die eingehenden Züge in Kolonnen ungekuppelter, ungebremster Einzelwagen aufzulösen und diese so kontrolliert über eine kleine Kuppe (Ablaufberg) im Gleis zu schubsen, dass man zwischen den einzelnen Wagen Zeit hat, Weichen umzustellen, so dass sie in die Zielgleise rollen. Die praktische Umsetzung ist hochkomplex und heutzutage über Computer koordiniert; in modernen Rangierbahnhöfen schließt sie ferngesteuerte Lokomotiven ein, die die Wagen über den Ablaufberg schieben, radargesteuerte Gleisbremsen, die die Räder der Wagen von unten packen, um sie zu verzögern, und zwischen den Schienen der Zielgleise laufende Förderwagen, die die sortierten Wagen zum Kuppeln zusammenschieben. Der Nürnberger Rangierbahnhof, der keinen Ablaufberg in der Ebene hat, sondern gleich komplett im Gefälle liegt, hat Tausende von kleinen Bremselementen und klappbare Prellböcke, die Wagengruppen vor dem Wegrollen sichern können. Die Kapazität moderner Rangierbahnhöfe ist denn auch gewaltig - selbst unter der erschwerten Bedingung, dass in Europa nach wie vor keine automatische Kupplung eingeführt wurde (Prellblog 8), schafft Maschen eine maximale Rangierleistung von 165 Wagen pro Stunde und Richtung. (Der größte aller Rangierbahnhöfe, Bailey Yard, Nebraska, hat zwar insgesamt mehr Durchsatz, schiebt davon aber weniger über die Ablaufberge.)

Nur wird, und deswegen auch die dräuende Einleitung zu diesem Artikel, diese Kapazität nicht wirklich ausgenutzt, da der Eisenbahnverkehr nicht mehr alle mit allen verbindet wie früher vielleicht einmal, sondern immer mehr so genannte Ganzzüge gefahren werden - Züge, die nirgendwo zeit- und arbeitsaufwändig umgebildet werden, sondern direkt und über Nacht von Punkt zu Punkt fahren, meistens von einem Seehafen in ein fernes Land (gerne Italien). Auch gehören in Deutschland (bis auf den ehemals stillgelegten in Wustermark) alle Rangierbahnhöfe der DB, während gerade beim Ganzzugverkehr die Konkurrenz immer größere Marktanteile erringt. Bisher hat sich der Einzelwagenverkehr gerade für die DB als Einnahmequelle überraschend gut halten können; die Schließung aller Rangierbahnhöfe, von der bei Schwarzsehern noch vor fünf bis zehn Jahren gerne die Rede war, ist abgewendet, wenn sie je zur Debatte stand. Doch trotzdem fordern die Zeiten ihren Tribut.
Die anfangs genannte Erneuerung in Maschen ist nicht nur eine Renovierung und allgemeine Aufmöbelung der Anlage, sondern auch eine Umstrukturierung, die Teile der Sortieranlage opfert, um mehr lange Gleise für den nächtlichen Langstreckenverkehr einrichten zu können. Außerdem soll neuere Technik Arbeitsplätze einsparen, da der Güterverkehr bekanntlich in allen Sparten unter gewaltigem Kostendruck steht.

Die Viertelmilliarde für die Großbaustelle im wilden, wilden Westen dokumentiert somit gleichzeitig das Überleben des Totgeglaubten, aber auch, dass Eisenbahn kein Freilichtmuseum sein kann, wenn sie überleben will. Vielleicht wird es in Deutschland irgendwann keine Ablaufberganlagen mehr geben, weil die Riesenflächen der Rangierbahnhöfe besser für flache Gleisanlagen und Containerterminals genutzt werden können. In Lehrte soll nach jahrzehntelangem Gehader demnächst der Bau einer Umschlaganlage beginnen, in der Container zwischen Ganzzügen umgeladen werden sollen, so dass gemischte Züge ohne Rangieren möglich sind (aber eben nur für Container und Wechselbrücken). Vielleicht kommt irgendwann aber auch die automatische Kupplung, der selbstfahrende Güterwagen und der Einzelwagenverkehr boomt? Es bleibt wie immer spannend.

Bild: Robert Ashworth bei Flickr (Details und Lizenz)

Montag, 12. Oktober 2009

111: Wer fährt, der zahlt

Nach dem Regierungswechsel wird sich in der Verkehrs- und Technikpolitik allgemein sowie in der Bahnpolitik speziell wohl einiges tun in Deutschland. Das Negativszenario ist wohl dieses: An der Struktur des DB-Konzerns, seiner Finanzierungswege und der Eisenbahnaufsicht ändert sich nichts, die Mittel für die Bahn werden rundum drastisch gekürzt, für die Straße gibt es massenweise frisches Geld, überlange Lkw werden deutschlandweit zugelassen, die Lkw-Maut wird nicht erhöht, dafür vollständig in den Straßenbau umgeleitet, es werden weder Tempolimit noch Pkw-Maut eingeführt, und es tut sich auch nichts auf dem Gebiet einer dringend nötigen Neuregelung der Bezuschussung kommunaler Verkehrsbauten.
Wer weiß, ob es so kommt. Möglich ist es sicher.

So oder so ist die FDP in die laufenden Koalitionsverhandlungen wohl mit der Position gegangen, dass sich die einzelnen Verkehrsinfrastrukturen weitergehend selber tragen sollten als derzeit, und das sei auch der Aufhänger für diesen Beitrag. Wie der Straßenverkehr durch den Staatshaushalt herangezogen wird, um Ausbau und Unterhaltung seiner Infrastruktur zu finanzieren, ist allgemein bekannt: Kfz-Steuer, Energiesteuer (die Ex-Mineralölsteuer), Lkw-Maut, auf kommunaler Ebene Parkgebühren und Anwohnerbeiträge. Wie wird nun aber das Eisenbahnverkehrsunternehmen, das Züge fahren lässt, zu Ausbau und Unterhalt der genutzten Infrastruktur herangezogen? Der Staat kassiert zwar, trotz seit Jahren anhaltender energischer Forderungen, dies zu ändern, Energiesteuer auf Bahndiesel und Stromsteuer auf Bahnstrom und er bezuschusst Ausbau- und Instandsetzungmaßnahmen der Eisenbahninfrastrukturunternehmen (in erster Linie natürlich der Quasimonopolist DB Netz). Das ist aber längst nicht alles. Die Haupteinnahmen erzielen die Infrastrukturbetreiber durch Nutzungsentgelte.
Die Grundeinheit der Netznutzung (und auch der Fahrplankonstruktion) heißt bei der Eisenbahn Trasse. Eine Trasse ist das Recht, zum Zeitpunkt T von A nach B zu fahren. Für Trassen erheben die Infrastrukturunternehmen bei Eisenbahnunternehmen Trassenpreise. Deren Gestaltung ist gar nicht so unkomplex.


DB Netz erhebt zum Beispiel je nach Bedeutung und Maximalgeschwindigkeit der Strecke einen Grundpreis von 1,59 bis 8,09 Euro pro Trassenkilometer. Der niedrigste Preis wird dabei nicht für einfachste Nebenstrecken (die sind sogar relativ teuer), sondern für überwiegend durch S-Bahnen genutzte Strecken vergeben, was auf Grund der DB-Dominanz der deutschen S-Bahn-Netze bereits ein Geschmäckle hat. Der Grundpreis wird bei DB Netz dann je nach Nutzungsart (Personen oder Güter, langsam oder schnell, Einbindung in ein Taktsystem oder nicht) mit einem Faktor zwischen 0,5 und 1,8 multipliziert. Die billigsten, die Güterverkehrs-Zubringer-Trassen, lassen sich allerdings nur zwischen Güterverkehrsstellen und Rangierbahnhöfen der DB bestellen, wenn Anschluss an eine sonstige Güterverkehrstrasse besteht. Auch das riecht danach, dass hier konzernintern bevorteilt werden soll. Insgesamt öffnet sich jedenfalls eine Schere zwischen einem theoretischen Minimalpreis von 0,80 Euro und einem theoretischen Maximalpreis von 14,56 Euro pro Trassenkilometer.
Da hört der Spaß aber noch längst nicht auf. Der Grundpreis kann durch verschiedene Zusatzfaktoren oder pauschale Zusatzentgelte weiter steigen: Faktor 1,2 für besonders stark ausgelastete Strecken; Faktor 1,5 bei einem Zug mit einer Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h oder weniger; Regionalfaktoren zwischen 1,05 und 1,78 in besonders personalintensiven Nebenstreckennetzen; 92 Cent pro Trassenkilometer Zuschlag für Züge über dreitausend Tonnen. Auf der anderen Seite gibt es Mengenrabatte von bis zu 5 % für die Gesamtlaufzeit eines Rahmenvertrages, zeitlich beschränkte Sonderangebote für wenig ausgelastete Strecken und 10 % Neukundenrabatt! Ein kompliziertes Anreizsystem mit »Minutenkonten« plant irgendwie ein, dass Verspätungen auftreten, aber von verschiedener Seite verschuldet sein können, es gibt Entschädigungen, wenn die Trasse nicht im vereinbarten Zustand befahrbar ist oder eine Umleitung besteht, Angebots- und Stornierungsentgelte.

Das klingt, wenn man sich wegdenkt, dass immer noch ca. 70 % der Trassen DB-konzernintern vermarktet werden und die Tarifstruktur darauf hin optimiert ist (wo nicht rechtlich anderes erzwungen wurde), eigentlich gar nicht so schlecht. Der Haken ist nur, dass selbst die höchsten Trassenpreise alles andere als kostendeckend sind, mithin erhebliche staatliche Instandsetzungs- und Ausbauzuschüsse bereits einkalkuliert sind.
Zum Negativszenario gehört daher noch eine Klausel: Eventuell wird Schwarz-Gelb ganz im Sinne von Wettbewerbsneutralität und Liberalität die DB rechtlich oder durch Kürzungsdruck dazu zwingen, ihre Trassenpreise näher an die Kostendeckungsgrenze zu bringen - ohne dagegen irgend etwas dafür zu tun, dass auch alle Straßenverkehrsteilnehmer entsprechend stärker belastet werden.

Der Idealfall wäre es meiner Meinung nach, wenn sowohl Straßen- als auch Schieneninfrastruktur jeweils vollständig über Mauten bzw. Trassenpreise finanziert würden. Zur Gegenfinanzierung könnte man dann gerne auch die Energiesteuer wieder senken - mich stört es nicht, wenn die Luxemburger in Trier tanken.

Bild: Marcin Wichary bei Flickr (vollständiges Bild, Details und Lizenz)

Sonntag, 11. Oktober 2009

Glücklich getrennt reloaded

Ich habe mal die neueste Version des Silbentrennungsskripts, das ich hier verwende, eingespielt. Mal schauen, ob das Vorteile bringt.

Montag, 5. Oktober 2009

110: Laufend Nummern

In einem anonymen Kommentar zum Prellblog 107 wurde ich gefragt:
Wieso erwähnst du nicht, dass [elektronische Stellwerke] vollautomatisch funktionieren?
Dies ist der in meiner Replik angekündigte ausführliche Beitrag zum Thema. Es stimmt, elektronische Stellwerke, die heute der Goldstandard der Steuerung von Weichen, Signalen und anderen Stellelementen sind, funktionieren im Normalbetrieb tatsächlich »vollautomatisch«, aber das ist keine neue Erfindung. Es fragt sich auch, was »vollautomatisch« bei einem Stellwerk überhaupt heißen kann.
Schon bei den guten alten Relaisstellwerken, deren Logik in Form von Kilometern bunter Kabel und regaleweise elektromechanischen Bauteilen realisiert war, passierte ziemlich viel automatisch - durch Niederdrücken (in Ostdeutschland häufig auch: durch Hochziehen) zweier Druckknöpfe für Start- und Zielpunkt einer Fahrstraße wurden selbsttätig alle Weichen dafür gestellt. Früher musste jede Weiche einzeln mit Hebeln oder Drehknöpfen gestellt werden, wobei spezielle Blockiermechanismen dafür sorgten, dass dies zur beabsichtigten Fahrstraße passte.

Was der namenlose Kommentator jedoch eher meint, wenn er »vollautomatisch« schreibt, ist der so genannte Selbststellbetrieb beziehungsweise die Zuglenkung. Im einen Fall ist ein Bahnhof so konfiguriert, dass bei Einfahrt eines Zuges in ein bestimmtes Gleis automatisch die Ausfahrt in ein bestimmtes anderes Gleis gestellt wird. Ein Stellwerk muss so oder so über Sensoren verfügen, um zu erkennen, ob sich in bestimmten Gleisabschnitten Züge befinden oder nicht; das wird über verschiedene elektrische Systeme erledigt, die letztlich alle auf die Präsenz oder das Passieren von Achsen reagieren und denen das Prellblog irgendwann auch noch eine Folge widmen wird. Diese Sensoren können nun auch direkt Fahrstraßeneinstellungen auslösen.
Im anderen Fall wird nicht nur erkannt, dass da überhaupt ein Zug ist, sondern auch, um welchen Zug es sich handelt, und dieser entsprechend auf einem bestimmten Weg geleitet. Da es handelsüblicherweise keine Sensoren gibt, die in ein Stellwerk Informationen über die Identität eines Zuges einspeisen können, wird dazu üblicherweise eine Kennziffer in die Stellwerkslogik eingegeben, wenn der Zug in den Stellbereich einfährt, in der verschlüsselt ist, wo der Zug hin soll.
Im besten Falle ist diese Kennziffer einfach die Zugnummer. Und damit hätten wir auch gleich einen der Gründe dafür, warum Züge diese bis zu fünfstelligen Nummern tragen. Natürlich dient die Nummer auch bei Logbucheintragungen, im Funkverkehr und für die immer wieder beliebte Ansage »Triebfahrzeugführer 47110 bitte Türen freigeben!« zur Identifizierung des Zuges.
Die innere Logik der Zugnummer ist recht komplex; bestimmte Nummernbereiche sind bestimmten Zugarten beziehungsweise bestimmten DB-Tochterunternehmen (oder externen Unternehmen) vorbehalten, manchmal sind grobe geographische Verläufe ähnlich codiert wie in den Nummern der Bundesautobahnen, und Zug und Gegenzug unterscheiden sich durch gerade beziehungsweise ungerade Endziffer. In besseren elektrischen und in praktisch allen elektronischen Stellwerken werden diese Nummern auch auf der Anzeigetafel oder am Bildschirm dargestellt und hüpfen jeweils, wenn gemeldet wird, dass ein Zug von einem Abschnitt in einen anderen fährt, weiter.

Bild: Kostas Krallis (»SV1XV«) bei Wikimedia Commons (vollständiges Bild, Details und Lizenz)

Sonntag, 27. September 2009

Wahlaufruf

Liebe Leserinnen und Leser des Prellblog,

es ist noch fast drei Stunden lang Bundestagswahl. Auch wenn, wie anlässlich der Europawahl genannt, die wirklich wichtigen ordnungspolitischen Entscheidungen, die die Eisenbahn betreffen, mittlerweile in Straßburg, Luxemburg und Brüssel fallen - die Bundespolitik entscheidet maßgeblich darüber, wie viel Geld der Eisenbahn überhaupt für Infrastruktur zukommt und wie mit der Privatisierung der Deutschen Bahn weiter verfahren wird. Wenn euch das also interessiert, geht wählen!
Eine Wahlempfehlung kann ich nicht abgeben. Ich muss aber feststellen, dass die einzige öffentlich stark präsente Partei, die ohne eine verkehrspolitische Position in ihrem Wahlprogramm antritt, die Piratenpartei ist.

Mittwoch, 23. September 2009

Für die Akten

Ich bin gestern umgezogen (siehe auch das neue Impressum) und werde erst wieder dazu kommen, ein Prellblog zu schreiben oder gar mich dem Montagstermin wieder zu nähern, wenn eine kritische Masse von Möbeln aufgebaut ist.

Freitag, 18. September 2009

109: Von dreihundert auf null

Letzte Woche habe ich hier grob erklärt, wie Eisenbahnbremsen so funktionieren. Wie so vieles beim System Bahn sind die Bremsen der Gipfelpunkt einer zweihundert Jahre währenden Entwicklung, und ihre Geschichte ist in Blut geschrieben. Und sie ist, auch wenn das mit dem Blut doch seit der (wahrlich geschichtsträchtigen) Einführung der durchgehenden Druckluftbremse stark nachgelassen hat, noch lange nicht beendet. Heute daher noch ein paar Ausführungen zum Bremsen von Zügen.

Wer an einem stehenden Zug vorbeigeht, hat sicher schon einmal die meist farblich gekennzeichneten Umstellhebel am Untergestell gesehen. Man wählt damit so etwas wie »G«, »P« oder »R«. Bei Güterwagen sieht man häufig Hebel, mit denen man zwischen »leer« und »beladen« wählen kann - bei französischen Güterwagen kann man sich zwischen »MARCHE« und »VOYAGE« entscheiden, also zwischen Marsch und Reise; ich schätze, dass Marsch für Überführungsfahrt, also Leerfahrt, steht.
Diese verschiedenen Umstellmöglichkeiten haben damit zu tun, dass je nach Zug, in den ein Wagen eingereiht ist, und je nach Zuladung, die Bremsen unterschiedlich eingestellt werden müssen. Schnelle Personenzüge bremsen mit »R+160« in einem roten Karree, was sozusagen der Super Mario mit Feuerblume und Unverwundbarkeitsstern unter den Schnellzugbremsen ist. Lahmste Güterwagen bremsen mit »G«. Die Voll-/Leer-Unterscheidung soll vermeiden, dass leere Wagen zu stark bremsen oder volle Wagen zu schwach; man findet so etwas zunehmend immer weniger, weil es automatische Lastabbremsvorrichtungen gibt, die selber messen, ob der Wagen beladen ist, und die Bremsleistung anpassen. Natürlich haben moderne Wagen auch ABS, nur dass das dann Gleitschutz heißt und mit simpelsten Mitteln bereits zu Zeiten realisiert wurde, als man bei Autoherstellern noch dachte, das gäbe es nur bei Flugzeugen.
Aber wie gesagt, es gibt diese Hebel, und gerade bei langen Güterzügen aus gemischten Wagen stellt man durchaus je nach Bauart und Position des Wagens die Bremsen unterschiedlich ein. Es kann sogar vorkommen, dass die Bremsen bei einigen Wagen ganz abgeschaltet werden. Dies hat damit zu tun, dass man vermeiden möchte, dass bei Bremsungen der Zug über Gebühr zusammengestaucht oder gestreckt wird, denn die recht filigranen europäischen Kupplungen (Prellblog 8) mögen keine Streckungen, und übermäßiges Stauchen kann schon mal zur Entgleisung (Prellblog 57) führen.

Die gute alte Druckluftbremse ist ohnehin mittlerweile bis aufs Letzte ausgereizt. Der »Schnellbremsbeschleuniger« zum Beispiel, der im Prinzip aus einem Ventil in jedem Wagen besteht, das reagiert, wenn dort die Druckabfallwelle einer Schnellbremsung (wir erinnern uns: komplettes Ablassen der Luft) durchkommt, sorgt bei schnellen Personenzügen dafür, dass der Steuerimpuls zum Bremsen mit maximal möglicher Geschwindigkeit (ungefähr Schallgeschwindigkeit!) an allen Punkten ankommt. Bei der elektropneumatischen Bremse ist die Druckluftbremse parallel geschaltet zu einer elektrischen Leitung, die alle Bremsen verbindet und so ein Auslösen mit Licht- statt mit Schallgeschwindigkeit ermöglicht; dabei wird die Luftleitung allerdings nicht in sicherheitsrelevanter Hinsicht überbrückt. Die Druckluft ist letztlich die Königin. Was die Elektropneumatik aber erlaubt ist die Notbremsüberbrückung: Zieht man in einem damit ausgestatteten Zug die Notbremse, wird die Luftleitung nicht sofort entleert, sondern der Lokführer alarmiert und das Zugpersonal (das gesetzlich für solche Züge vorgeschrieben ist) losgeschickt, um sich das Problem anzuschauen. Gebremst wird der Zug erst, sobald dies ungefährlich ist. Notbremsüberbrückung ist in Deutschland auf zahlreichen Strecken mit langen Tunnels vorgeschrieben, damit brennende Züge nicht im Tunnel angehalten werden. Die Idee ist dieselbe wie die hinter den Notbremsen bei U-Bahnen, die Züge explizit immer erst im nächsten Bahnhof stoppen.

Jenseits von all den Finessen beim Ansteuern der Scheibenbremsen gibt es aber noch ganz andere Bremsen.
Bei elektrischen und dieselelektrischen Triebfahrzeugen kann man die Motoren als Generatoren schalten (»elektrische Bremse«) und damit die Bremsbeläge schonen. Besonders Triebwagen, die an vielen Achsen Motoren haben, profitieren hier. Moderne Fahrzeuge speisen den dabei zurückgewonnenen Bremsstrom zurück in die Leitung, Dieselfahrzeuge und ältere Elektrofahrzeuge verfeuern ihn in Bremswiderständen. Ältere Straßenbahnen heizen damit. Man überlegt seit Jahren an sinnvollen Speicherlösungen herum (Schwungräder, Druckluftspeicher, Kondensatoren, Akkus), um auch Fahrzeugen ohne strombedürftiger Oberleitung das regenwaldschonende Recycling von Bremsenergie zu erlauben.
Bei schnellen Fahrzeugen sind häufig, wenn auch nicht immer, Magnetschienenbremsen vorgesehen. Das sind je nach Fahrzeugbauart unterschiedlich konstruierte Vorrichtungen; bei Straßenbahnen funktionieren sie ganz anders als bei der Eisenbahn. Das Ziel ist aber dasselbe: Ein Magnetschuh mit Verschleißoberfläche wird kräftig gegen die Fahrschienen gedrückt und bremst das Fahrzeug rabiat ab. Vorteil ist dabei, dass die Abhitze praktischerweise in die Schienen geleitet wird. Magnetschienenbremsen sind für Fahrzeuge, die auf Strecken mit herkömmlicher Signalausrüstung sicher 160 km/h fahren sollen - und das sind in Deutschland mittlerweile sogar Bimmelbahnen - unverzichtbar, von schnelleren Zügen ganz zu schweigen.

Aber keine Regel ohne Ausnahme. Es gibt noch eine edlere Bremse, nämlich die Wirbelstrombremse, die auf das Andrücken und Schleifen an der Schiene verzichtet. Der Magnet wird dort knapp über der Schiene gehalten, gewaltige Ströme fließen, die Schienen erhitzen sich auf Temperaturen, bei denen man fast ein Ei braten könnte, der Zug verzögert recht deutlich, und das alles, ohne dass der Bremsschuh die Schiene überhaupt berührt. Der Nachteil ist, dass wegen der Hitzeentwicklung und der Magnetfelder hierfür die Strecken besonders »gehärtet« werden müssen und daher der ICE 3 der einzige Zug ist, der auf gewissen Strecken mit Wirbelstrom bremsen darf. Geht die Wirbelstrombremse mal nicht (was früher gar nicht so selten war), darf er nicht einmal mehr 160 km/h fahren, geschweige denn seine 300 reguläre Spitze. Auf ausländischen Strecken haben die Magnetfelder der ICE-3-Bremse übrigens schon Deckel von Weichenantrieben abgerissen und die Hitze zu Schienendeformationen geführt.

Bremsen ist also, auch wenn es heute von einem spielzeugmäßigen Hebel, an dem ein Computer (Jargon »Bremsrechner«) hängt, gesteuert wird, immer noch ein schmutziges und heißes Geschäft. Ich denke aber, man wird mir zustimmen, wenn ich ganz schön beeindruckt bin davon, wie selbstverständlich diese in vielen Teilen mehr als 100 Jahre alte Technik täglich und rund um den Globus Züge mit teilweise mehreren tausend Tonnen Gewicht präzise verlangsamt.

Tipp für Kenner: Die schweren Güterzuglokomotiven Baureihe 152 der DB haben außenliegende, gelochte Bremsscheiben. Einfach mal drauf achten.

Bild: Doo-ho Kim (»titicat«) bei Flickr (Details und Lizenz)

Sonntag, 13. September 2009

108: Von hundert auf null

Der Kern des gesamten Sicherheitskonzepts der Eisenbahn, so wie sie heute fährt, sind definierte Bremswege. Ein Zug muss, wenn ein Signal überraschend »Halt erwarten« zeigt, bis zum zugehörigen »Halt«-Signal zum Stehen kommen können (Prellblog 58). Diese Abstände bestimmen letztlich auch in erheblichem Maße die Geschwindigkeiten, die gefahren werden dürfen. Standard in Deutschland ist dabei, dass ein Zug aus voller Fahrt mit 160 km/h binnen 1000 Metern anhalten können muss. Das klingt zunächst nicht unbedingt beeindruckend; beim Auto rechnet man bei derselben Geschwindigkeit per Faustformel mit einem Bremsweg von gut 250 Metern. Allerdings wiegt ein Auto normalerweise so um die anderthalb Tonnen; ein realistischer Regionalzug mit sechs Doppelstockwagen und einer modernen Drehstromlokomotive über den Daumen gepeilt etwa 390 Tonnen.

Güterzüge sind natürlich gerne noch viel schwerer, fahren allerdings auch höchstens mit 100 bis 120 km/h umher.
Wie verzögert man solche Massen sicher aus solchen Geschwindigkeiten, und das noch unter Berücksichtigung des Problems, dass ein Zug eine mehr oder minder temporäre Zusammenstellung einer variierenden Zahl unterschiedlicher Fahrzeuge darstellt?

Man macht es mit Druckluft. Dieses Medium hat sich im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts nahezu universell durchgesetzt. Auf der Lokomotive sitzen Kompressoren (eisenbahndeutsch Luftpresser) und Lufttrockner, durch jedes Eisenbahnfahrzeug gehen ein oder zwei Luftleitungen durch, und über Schläuche und Schlauchkupplungen entstehen so - wiederum ein oder zwei - Druckluftstränge von vorne bis hinten.
An den Radsatzwellen (Prellblog 14) sitzen nun Bremsscheiben, die jede Autobremsscheibe wie Spielzeug aussehen lassen. (Das Bild zeigt eine außenliegende Scheibenbremse, was extrem selten ist, normalerweise sind die zwei bis drei Scheiben zwischen den Rädern montiert. Es kommen manchmal auch eigene Bremswellen vor, die durch Getriebe mit den Achswellen verbunden sind. Bei älteren Wagen und vor allem bei Güterwagen findet man auch noch Klotzbremsen, die direkt auf den Radreifen wirken.) Die Bremszangen sind über Gestänge mit Druckluftzylindern verbunden, zu denen jeweils eigene Luftbehälter gehören. Die Verbindung zwischen Bremszylinder, Luftbehälter und der durchgehenden Bremsleitung stellt ein Bremsventil her, ein kompliziertes und in der Wartung anspruchsvolles Spezialbauteil, das meistens, aber nicht immer, von der Firma Knorr-Bremse kommt.

Bremsen funktioniert jetzt so: Vorne auf der Lokomotive wird ein Ventil (das Führerbremsventil) aufgemacht, der Druck in der Bremsleitung fällt um 40 bis 150 kPa ab, die Bremsventile öffnen proportional zu diesem Druckabfall die Verbindung vom Luftbehälter zum Bremszylinder, die Bremsbacken legen sich an die Bremsscheiben. Wird das Führerbremsventil wieder geschlossen, füllt sich die Bremsleitung wieder auf den normalen Druck von 500 kPa auf, wobei die einzelnen Luftbehälter jeweils ebenfalls wieder aufgefüllt werden. So ist es möglich, über die Regelung des Luftdrucks in der Bremsleitung einen mehrere hundert Meter langen Zug feinfühlig und ruckfrei abzubremsen.
Wenn dagegen schnellstes Abbremsen ohne große Finesse gefragt ist, wird die Druckluft einfach ganz abgelassen. Das kann zum Beispiel durch eine Notbremse passieren. Praktischerweise wird eine solche Schnellbremsung auch ausgelöst, wenn die Kupplung zwischen zwei Wagen zerreißt, und bringt dann beide Zugteile zum Stehen.

Es gibt natürlich noch weit mehr Feinheiten, und darum geht es nächste Woche mit diesem Thema weiter. Inspiriert wurde dieser Artikel übrigens von den derzeitigen Schwierigkeiten der S-Bahn Berlin mit ihren Bremszylindern - mögen sie schnell behoben sein.

Bild: Richard Masoner bei Flickr (Details und Lizenz)

Samstag, 5. September 2009

107: Alles elektrisch

Im Prellblog war schon öfters die Rede von Weichen und Signalen, von eingleisigen Strecken, Überholungen, Kreuzungen und Zugbeeinflussungssystemen; noch nicht war die Rede davon, was ein Stellwerk eigentlich ist und tut.

Wenn dies nicht das Prellblog wäre, würde ich an dieser Stelle ausholen und über Hebel, Drahtzüge, Seilrollen, Blockfelder und Verschlussregister reden, auch über Gleisbilder, Spurkabel und Türme, bis obenhin vollgestopft mit Relais. Mir geht es hier aber nicht um Vergangenheit, sondern um Gegenwart, und da sind Stellwerke durch die Bank elektronische Stellwerke (ESTW) und damit letztlich bloß besondere Formen von Computeranlagen.

In Deutschland operieren mittlerweile mindestens fünf Hersteller solcher Systeme (Siemens, Thales, Bombardier, Westinghouse, Scheidt & Bachmann). Ihre Produkte unterscheiden sich in Aufbau und Leistung stark voneinander, aber das Grundprinzip ist eigentlich immer dasselbe:
Irgendwo sitzt, typischerweise in einem Raum mit einer Kaffeemaschine und einem Gummibaum, gerne in einer Zentrale, wo für ein Fünftel des Landes der Bahnverkehr gelenkt wird, jemand vor einem mehr oder minder großen Übersichtsbildschirm mit dem Gleisplan des gesamten Bereichs, in dem das Stellwerk stellt. Vor sich hat er einen Arbeitsplatz, wo ein kleinerer Bildschirm einen Ausschnitt aus diesem Gleisplan darstellt. Grafisch verströmen diese Anzeigen den Charme der achtziger Jahre (Bild).
Hier können nun per Maus oder Tastatur Stellbefehle gegeben werden - typischerweise bestehen diese im Einstellen einer Fahrstraße (der gesicherte Korridor aus Prellblog 53) von einem Startsignal zu einem Zielsignal.
Die Bedieneinheit kommuniziert mit einem Zentralrechner, der heutzutage wohl meist aus einem Regal voller handelsüblicher Server besteht; dieser wiederum kommuniziert mit dezentral aufgestellten, weitgehend autarken Rechnern, die in kleinen, hässlichen Fertighäuschen aus Beton entlang der Gleise verteilt sind. Wenn der Ausführung des Befehls nichts im Wege steht, werden aus diesen Häuschen heraus Weichen umgestellt (in Deutschland geschieht dies grundsätzlich mit Elektromotoren) und Signallampen werden aus- und andere eingeschaltet.

Das alles wäre harmlos, wenn nicht die (gerade in Deutschland) extrem hohen Sicherheitsanforderungen für den signaltechnisch sicheren Betrieb wären. Das fängt dabei an, dass die Benutzeroberfläche in der gezeigten Pacman-Qualität gerne von zwei im Wechsel- oder im Vergleichsbetrieb arbeitenden Grafikkarten dargestellt wird, um zu vermeiden, dass ein Grafikfehler zu einer falschen Interpretation des Gleisbildes führt. Dann sind natürlich die beteiligten Rechnersysteme redundant ausgeführt, dergestalt, dass entweder zwei Einheiten im Gleichtakt arbeiten und eine Störung melden, wenn sie sich nicht einig sind, oder dass drei Einheiten parallel betrieben werden, bei denen gegebenenfalls eine gestörte Einheit von den anderen beiden überstimmt werden kann. Kommunikationswege sind schwer abgesichert. Die dezentralen Rechner sind häufig in der Lage, weiter Sicherheitsfunktionen zu übernehmen, wenn der Kontakt zur Zentrale abreißt.
Die Software, die sicherstellt, dass feindliche Fahrstraßen sich ausschließen (auf deutsch: dass keine Situation hergestellt wird, in der Züge zusammenstoßen könnten), muss sich an strengste Zertifizierungsprozesse halten und wird generell mathematisch verifiziert. Diese Beweisführung, das die Software wirklich in keinem Fall falsch agieren kann, wird sonst zum Beispiel für die Steueranlagen von Atomkraftwerken oder Flugzeugen verwendet. Anderswo ist das wegen der hohen Kosten selten.

Das erklärt dann zumindest teilweise die Apothekenpreise im, bei großen Knotenpunktbahnhöfen, durchaus dreistelligen Millionenbereich. Die aufwändige Zertifizierung der Software ist auch der Grund, warum Änderungen im Stellbereich (zum Beispiel durch Anschließen eines neuen Anschlussgleises mit Weiche) sehr teuer sind. Es hält sich hartnäckig das Vorurteil, früher sei so etwas quasi mit Blumendraht und Lötkolben gegangen, heute müsse man dafür so viel zahlen wie für eine komplette Neueinrichtung der gesamten Anlage. So krass ist es zwar nicht (mehr), aber elektronische Stellwerke haben durchaus ihre Kritikerinnen. Dass die DB zur Kostenminimierung die Einrichtung eines ESTW meistens zum Wegreißen so vieler »überflüssiger« Gleise und Weichen nutzt wie möglich, hilft da nicht besonders.

Bild: Daniel Rutenberg bei Wikipedia (Details und Lizenz)

Samstag, 29. August 2009

Ballonförmig

Gestern hat man mir einen Weisheitszahn aus dem Kiefer gemeißelt und heute ist mein Kopf ungefähr doppelt so groß wie sonst. Dabei müsste dringend weiter an der Diss gearbeitet werden, was unter Schmerzmitteln nicht so einfach ist ... allmählich überlege ich mir, ob ich den Wochenturnus für das Prellblog oder zumindest den Solltermin montags nicht aufgeben sollte.

Freitag, 21. August 2009

106: Röhrenrechner

Seit 13 Tagen ist in Berlin die U-Bahn-Linie 55 in Betrieb. Sie verbindet den Hauptbahnhof mit dem U- und S-Bahnhof Brandenburger Tor (ehemals Unter den Linden), mit einem Zwischenhalt »Bundestag«. Es handelt sich bei der kurzen Pendellinie um das zukünftige Endstück der U5, die einmal vom Alexanderplatz bis zum Hauptbahnhof durchfahren soll.

Wie die gewaltigen neuen Fernbahnhöfe (Berlin Hbf, Südkreuz, Gesundbrunnen), der Umbau des Ostkreuzes (siehe Prellblog 2), die zahllosen Sanierungen, Lückenschlüsse und Umbauvorhaben bei U- und S-Bahn und die zaghaften Ausbauten der Straßenbahn gehört die Verlängerung der U5 in den Kreis der Wiedervereinigung und Erneuerung von Berlins Schieneninfrastruktur, einer Masse von Bauvorhaben, die sich nahezu alle durch verkehrtechnische Komplexität, härteste politische Debatten und bautechnische Herausforderungen auszeichnen. Der Ostkreuz-Umbau ist dafür stets mein Paradebeispiel, zieht er doch die Umlegung einer Straßenbrücke, eines U-Bahnhofs und diverser Straßenbahntrassen, eine architektonische Wiederverwertung denkmalgeschützter Bauten und Gebäudeteile sowie die Neueinrichtung eines Fernbahnhofs mit sich. Aber auch der Hauptbahnhof war, mit den endlosen Bautaucherorgien zur Errichtung seiner Tiefbauten (inklusive der U55-Endstation), der vorhergehenden, begleitenden und nachfolgenden Diskussion sowie dem Nebenschauplatz der Abstufung des Bahnhofs Zoologischer Garten zum Regionalbahnhof, nicht von schlechten Eltern. Ich erinnere mich da noch an Prophezeiungen, Berlin Hbf würde als glänzende und menschenleere Investitionsruine enden und an Vorschläge, ihn gleich wie das nie eingeschaltete Kernkraftwerk Kalkar in einen Freizeitpark umzubauen, da ihn ja doch »niemand brauche«.
Auch die U55 »braucht niemand«. Wenn man WWW-Kommentatoren und Lokalzeitungskolumnen folgt, haben die allermeisten Verkehrsbauwerke diesen Status »braucht niemand«, vielleicht abgesehen von der Umgehungsstraße, die sich der Chefredakteur auf seinen Pendelweg wünscht. Dass es fixe Verkehrsbedürfnisse gäbe, über die man punktuell und objektiv entscheiden könnte, dass ein Verkehrsbauwerk »jemand« oder »niemand« braucht, ist zwar ein Märchen (siehe auch Prellblog 27). Allerdings kratzt man sich, wenn es um eine U-Bahn-Strecke von weniger als zwei Kilometern Länge geht, die über 300 Millionen Euro gekostet hat und deren Bau sich, weil von keiner Stelle wirklich enthusiastisch angetrieben, auf fast anderthalb Jahrzehnte erstreckte, doch ein wenig am Kopf, könnte man doch mit wesentlich weniger Geld und in kürzerer Zeit zum Beispiel Aachen, Münster oder Wiesbaden ein gediegenes Straßen- und Regionalstadtbahnnetz spendieren (und diese Städte haben so etwas bitter nötig).

Der Hintergrund, warum Berlin mit der U55 eine wahnsinnig teure Bauvorleistung für eine U-Bahn-Verlängerung geschaffen hat (immerhin mit sehr ansprechenden Bahnhöfen, von denen einer als Teilungsgedenkstätte mitgenutzt wird), während anderswo Projekte, die viel mehr Fahrgäste auf die Schiene bekommen könnten, vor sich hin dümpeln, ist nicht nur der Hauptstadtstatus, und dass hier, wie so oft in den letzten Jahren, ein lange verschlepptes Projekt aus dem Vereinigungsboom zum Abschluss kommt. Es geht auch um Fördermittel und Planungsbeschlüsse, die man nicht verfallen lassen möchte; darum, dass der Bund als Stakeholder seinen politischen Willen zum Bau der Strecke durchsetzen wollte und als naturgemäß stärkster Akteur dies auch geschafft hat. Anderswo gibt es keinen politischen Willen oder die Beteiligten sind sich nicht einig; deswegen ist Wiesbaden nach wie vor die größte Stadt Deutschlands ohne schienenbasiertes Verkehrssystem, obwohl man schon seit Jahr und Tag eine Anbindung an die Mainzer Straßenbahn hätte haben können. Währenddessen zogen Karlsruhe und Kassel beneidenswerte Regionalstadtbahnsysteme (siehe Prellblog 25) hoch.

Verkehrsbauten, insbesondere wenn viel Tiefbau dabei ist, sind immer unglaublich teuer und meistens viel teurer als geplant (jedes technische Großprojekt überschreitet das Budget um einen hohen zweistelligen Prozentsatz, es gibt nur wenige Ausnahmen). Trotzdem werden sie meistens irgendwann fertiggestellt, gerade weil sie so unglaublich teuer sind, und wenn sie stehen, wird über Kosten erst recht nicht mehr geredet. Da es sich bei Infrastruktur um klassisch investive und nicht konsumptive Staatsausgaben handelt, hält sich der potenzielle volkswirtschaftliche Schaden stark in Grenzen oder muss mühevoll herbeigerechnet werden. Auch wenn es etwas frivol klingen mag: Geld spielt in einem gewissen Sinne keine Rolle, wenn der Beschluss erst einmal gefallen ist. Es wird gebaut, was sich politisch und juristisch bauen lässt, relativ unabhängig vom Preis. Die öffentliche Debatte über teure Verkehrsprojekte wäre eventuell effektiver, wenn man weniger über Kostensteigerungen und Budgethöhen und mehr über Projektprioritäten, verkehrstechnischen Sinn, architektonische Schönheit und vor allem Steigerung von Lebensqualität diskutierte.
Man frage mich aber bitte nicht, ob die U55 dann noch gebaut worden wäre. Am Ende ist Mögliche-Welten-Semantik etwas für die Philosophie, und die soll mich hier nicht über Gebühr beschäftigen.

Bild: Gregor Fischer bei Flickr (Details und Lizenz)

Mittwoch, 19. August 2009

*hust*

Postkartenblauer Himmel, strahlender Sonnenschein, annähernd 30 Grad draußen und ich bin ordentlich erkältet. Das Prellblog für diese Woche fällt wahrscheinlich ganz aus, eventuell kann ich es noch irgendwann einschieben.

Montag, 10. August 2009

105: Eine Wucht

Für heutige Verhältnisse sind alte Bahnhofsgebäude oft weit überdimensioniert. Wartesäle verschiedener Klasse, Kohlenkeller, Dienstwohnungen, Gepäck- und Postabfertigungsräume - aus den großen ungenutzten Räumen in den häufig schlecht erhaltenen Bauten etwas zu machen, ist nicht immer einfach. Es gibt aber Bahnhöfe, deren Gebäude selbst im historischen Vergleich ungewöhnlich groß sind.

Mein persönlicher Spitzenreiter ist dabei ein klobiges Neorenaissancebauwerk auf trapezförmigem Grundriss, zwischen den Gleisanlagen eines Keilbahnhofs, mit fünfzig Meter langen, zweieinhalb Stockwerke hohen Längsfassaden von je zwei mal sieben Rundbogenachsen, die von einem gewaltigen Bogendurchgang zweigeteilt werden, der durchaus an Triumphbögen oder auch die berühmte Galleria Vittorio Emanuele II in Mailand und ähnliche »weltliche Kathedralen« denken lässt - und das Ganze für einen kleinen niedersächsischen Ort mit ein paar tausend Einwohnern. Die Rede ist vom Bahnhof Kreiensen, erbaut 1887 bis 1889. Wenn ich mich recht erinnere, gibt es eine Geschichte, die den reich ornamentierten (Bild) Prachtbau als Kulisse für ein Treffen zwischen deutschem Kaiser und russischem Zar erklärt, harte Belege dafür habe ich aber nicht finden können.

Mittlerweile hat Kreiensen seine Funktion als prominenter Eisenbahnknotenpunkt nahezu ganz eingebüßt, auch wenn die Anbindungen vielleicht besser sind als zuvor, von den üblichen Beschwerden über die Einstellung von IC-Halten einmal abgesehen. Der repräsentative Bau ist jedenfalls geblieben, und er beherbergt, soweit ich weiß, nahezu nichts.
Was könnte man hineintun?

Der vor allem durch sein hohes Dach äußerst geräumige Marburger Bahnhof wird nach langen Diskussionen (unter anderem sollten einmal Wohnungen hinein) nun in den oberen Ebenen von einer kommunalen Wohnungsbaugesellschaft als Gewerbeimmobilie ausgebaut. Das kann man nicht überall machen; anderswo sind Büchereien eingezogen (beispielsweise in Erzhausen) oder die Gemeindeverwaltung (so gesehen in Cölbe), sehr oft auch Lokale (Staudernheim, Kelsterbach, usw. usw.). Was aber in einen Bahnhof von Kreienser Format hineinpassen könnte, ohne hinter der Fassade lächerlich zu wirken wie es z.B. ein Ein-Euro-Markt täte, ist mir nicht ganz klar.
Zu überlegen ist auch, warum die Nutzung als Bahnhof, die ja eine ziemlich profane ist, anscheinend keinem noch so gewaltigen Bau unangemessen erscheint. Was verleiht der Beförderung auf Schienen diese Würde? Und wann hat es aufgehört? Hat es mit der Neigung der deutschen Öffentlichkeit zu tun, großzügige Bauten jeder Art als protzig zu beschimpfen? Und war das früher anders?

Bild: Nils Bremer bei Flickr (Details und Lizenz)

Montag, 3. August 2009

104: Kauderwelsch

Zur Ergötzung und Erbauung des Publikums (und mangels zündender Themenideen) bringt das Prellblog heute einige meiner Meinung nach besonders farbige Ausdrücke aus der deutschen Eisenbahnfachsprache nebst Erläuterungen. Keinerlei Anspruch auf irgendeine Vollständigkeit!


Abbügeln: Stromabnehmer senken
Abdrücken: Wagen über einen Ablaufberg schubsen
Abrüsten: Schritte durchführen, um ein Fahrzeug abstellbereit zu machen (z.B. Motor abstellen); schließt aber z.B. auch das Einsammeln liegengelassener Gepäckstücke durch das Begleitpersonal ein
Aufbügeln: Stromabnehmer heben
Aufrüsten: Schritte durchführen, um ein Fahrzeug fahrbereit zu machen (z.B. Rechner hochfahren, Druckluft erzeugen)
Aufgleisen: Gegenteil von Entgleisen, wird z.B. häufig mit dem Deutschlandgerät erledigt
Ausziehgleis: Stumpfgleis, auf das Züge aus einem Bahnhof oder einer Strecke hinausgezogen werden können, ggf. um sie zu kehren
Beidrücken: Einen zusammengestellten Zug durch Zusammendrücken kuppelfähig machen
Beifahranlage: Sperrsignal in Bahnsteigmitte, um das Verstärken zu erleichtern
Brechen: Einen sonst durchgehenden Zug durch zwei Züge, zwischen denen umgestiegen werden muss, ersetzen ("Der sonst von München nach Kassel durchgehende Zug wird sonntags in Frankfurt(Main)Hbf gebrochen")
Deutschlandgerät: Transportable Hydraulikvorrichtung zum Aufgleisen von Fahrzeugen
Ertüchtigung: Jede Art von technischer Verbesserung, um Leistung oder Widerstandsfähigkeit eines Systems zu erhöhen (Ertüchtigung einer Strecke für Neigetechnik, Druckertüchtigung von Wagen)
Flügeln: Einen Zug teilen und an zwei verschiedene Ziele weiterfahren lassen
Gleitschutz: Antiblockiersystem
Kehren: Fahrtrichtungs- und Gleiswechsel eines Zuges an seiner Endstation, ggf. mit Hilfe einer "Kehranlage" (Ausziehgleis zwischen den beiden Streckengleisen); vor allem bei dicht befahrenen Stadtverkehrssystemen
Kippberechtigter: Im Ausleeren von Kippwagen geschulte Person
Kopf: Gesamtheit der Weichenstraßen und Signalanlagen, mit denen ein Bahnhof in die Strecke übergeht; bei Durchgangsbahnhöfen wird oft vom Nordkopf und Südkopf bzw. Ost- und Westkopf gesprochen
Köpfen (auch Kopf machen, stürzen): Fahrtrichtungswechsel eines Zuges, ggf. mit Umsetzen der Lok ans andere Zugende verbunden
Langmachen: Kupplungen eines Zuges lockern, um seine Zerlegung vorzubereiten
Luftpresser: Kompressor
Schlechtläufer: Ein sich vom Ablaufberg eher langsam entfernender Wagen (Gegenteil: Gutläufer)
Schleuderschutz: Antriebsschlupfregelung
Stopfen: Schotterbettungen durch Hineinschlagen von Pickeln verdichten
Stumpfgleis: Blind endendes Gleis (meistens mit Prellbock am Ende)
Verstärken: Einem Zug einen anderen Zugteil mit selbem Ziel ankuppeln
Wachsamkeitstaste: Knopf, mit dem der Lokführer eine Zugbeeinflussung quittieren muss
Weichenbengel (auch Stelleisen): Stahlstange zum behelfsmäßigen Umstellen von Weichen von Hand

Bild: »Mrs Logic« bei Flickr (vollständiges Bild, Details und Lizenz)

Donnerstag, 30. Juli 2009

Und es wurde dann doch...

...noch ein bisschen später - Versprechen, an Arbeitstagen noch einen Blogeintrag fertigzukriegen, sollte ich nicht so leichtfertig abgeben.

103: Tag und Nacht

Heute konnte man in der Presse lesen, dass die russischen Staatsbahnen (RŽD) einen Auftrag zum Bau 200 schneller, dem RIC-Interoperabilitätsstandard genügender und daher international einsetzbarer Schlafwagen an ein Konsortium aus Siemens und einem russischen Waggonbauer vergeben haben. Die angegebenen 320 Mio. Euro sind wahrscheinlich nur das Volumen des Siemens-Auftragsteils. Das ist schon einiges.

Der Marktoptimist in mir frohlockt bei dieser Nachricht und stellt sich eine nahe Zukunft vor, in der, nach der nächstes Jahr anstehenden EU-Marktöffnung für den Personenverkehr, die RŽD oder eine ihrer Töchter ein ordentliches Netz langlaufender Nachtzüge in West- und Mitteleuropa aufbauen. Denn Nachtzüge, oder besser gesagt, Tag-und-Nacht-Züge, die teilweise Fahrzeiten von mehreren Tagen haben und in der gesamten Zeit nie länger als etwa eine gute halbe Stunde halten, gibt es in Russland, und Reisegeschwindigkeit, Sicherheit und Komfort sind nicht zu verachten - wenn es auch etwas holpert, der gelaschten Gleise wegen. Aus irgendwelchen Gründen werden Aktivitäten russischer Unternehmen in Deutschland zwar in der Öffentlichkeit stets misstrauisch beäugt, aber Schlafwagenzüge dürfen sie meinetwegen gerne fahren.
Das tut nämlich in Europa kaum noch jemand richtig gut. Das Angebot hat sich stark auf den Saisontourismus und Zusatzangebote zu Autozügen verengt und leidet verschiedentlich unter schlechtem Management. Die österreichische Staatsbahn beherrscht die Disziplin angeblich noch sehr gut; in Deutschland sind Nachtzüge Sache der DB AutoZug und dort lässt man sich regelmäßig Tarifregelungen und Angebotsveränderungen einfallen, die nicht immer leicht nachzuvollziehen sind (Halte, bei denen nicht ausgestiegen werden darf z.B.). Was die Sache auch nicht besser macht, ist, dass die Sitzwagen, sofern überhaupt mitgeführt, häufig extrem rappelige alte Abteilwagen sind.
Dabei ist zumindest theoretisch das Potenzial für langlaufende Nachtzüge in Europa immens. Dass die rigiden Sicherheitsbestimmungen bis heute Nachtzüge durch den Kanaltunnel verhindert haben, ist ein erster Schlag ins Kontor (die damals eigentlich für diesen Zweck beschafften Züge fahren heute übrigens als Tagzüge in Kanada und lösen regelmäßig Grübeln aus, warum jemand in Nordamerika Züge mit so kleinem Profil betreibt) - durch Verlängern nach London könnte man diverse Schlafwagendienste nach Paris, Brüssel, Köln und Amsterdam stark ausbauen und viel besser auslasten. Eurotunnel hat ja mittlerweile signalisiert, dass man sich für einfachere Verkehre durch die Röhren einsetzen will; vielleicht tut sich da was.
Wenn man weiterdenkt, den starken Ausbau neuer Schnellstrecken in Westeuropa und die Option für 250 km/h der geplanten russischen Wagen oder die existierenden chinesischen Bombardier-Hochgeschwindigkeits-Schlaftriebzüge berücksichtigt, könnte man sich auch Züge vorstellen, die zum Beispiel Berlin-Madrid oder London-Barcelona leisten, natürlich mit attraktiven Zwischenhalten. Auf der anderen Seite gibt es in Osteuropa bereits (bzw. noch) ein an Schlafwagenzüge gewöhntes Publikum und diverse Verbindungen, die man mit schnelleren Wagen und besseren Strecken tief nach Westen verlängern könnte.

Schön wäre es in der Tat, wenn es irgendwann ein Betreiber hinbekäme, Nachtzüge mit japanischem Komfort (siehe Bild) und 200-250 km/h quer durch ganz Europa zu jagen, von Lissabon nach Moskau und von Edinburgh nach Ankara. Kein Naturgesetz hält uns ab.

Dieser Beitrag erfüllt in gewisser Weise einen anonymen Artikelwunsch vom 19. Dezember letzten Jahres.
Bild: yys747 bei Wikimedia Commons (Details und Lizenz)

Dienstag, 28. Juli 2009

Trassenkonflikt

Gestern hatte die Doktorarbeit Vorrang vor dem Prellblog, ich reiche den Beitrag aber hoffentlich heute noch nach.

Samstag, 25. Juli 2009

Wartungsaufwand

Vielleicht hat es ja irgend jemand bemerkt: Meine seit ca. 2003/2004 existierende Bahnbaustellen-Liste ist schon seit Monaten nicht mehr gepflegt worden. Ich werde damit jetzt ganz offiziell aufhören und die Liste in den kommenden Wochen vom Server nehmen. Falls das jemanden stört oder gar jemand die Pflege übernehmen möchte, bitte ich um Wortmeldungen.

Dienstag, 21. Juli 2009

102: The Dome

Es gibt unter technikaffinen Männern (bei Frauen ist mir die Einstellung noch nicht begegnet) etwas, was ein Freund, der wie ich Geisteswissenschaftler mit EDV-Hintergrund ist, das »Informatikerweltbild« nennt (eine zugegeben nicht ganz passende Bezeichnung, da es zwischen Informatik als erlerntem oder ausgeübtem Beruf oder Fach und dem Vorhandensein dieses Weltbilds längst keine zwingende Kausalität gibt; aber irgend einen Namen muss das Kind nun einmal haben). Der aktuelle Diskurs über Datenschutz und Überwachung wird in der »Netzgemeinde«, wie mir scheint, zumindest lautstärkemäßig von Leuten mit dieser in ihren extremen Ausläufern technokratischen und letzten Endes kulturfeindlichen Einstellung dominiert - Leuten, die fest davon überzeugt scheinen, dass alle Juristen und alle Politikerinnen (außer Jörg Tauss und den Piraten natürlich) minderwertige Menschen sind, dass Wolfgang Schäuble der Wiedergänger Mielkes oder gleich Hitlers ist; oder, scheinbar harmloser, dass Science-Fiction-Autoren und »Techies« oder andere Angehörige der Geek-Elite, zu der sie sich selbst rechnen, die einzig relevanten gesellschaftlichen Gruppen sind.

Für mich ist es schwierig, über ein Überwachungsthema zu schreiben, weil ich mit den genannten Leuten auf keinen Fall in einer Schublade landen, aber auch nicht ihren Buhmann abgeben will - immerhin ist das grundlegende Anliegen ja ein völlig gerechtfertigtes. Ich fühle mich aber allmählich dazu verpflichtet (einen Anlass findet die aufmerksame LeserIn ganz unten), das Thema Überwachung im öffentlichen Verkehr hier zumindest ansatzweise anzugehen; ich möchte dabei aber vorsichtig sein und nicht in fünfhundert Wörtern mit dem ganzen Thema abrechnen, also wird hierzu bestimmt noch einiges nachkommen. Eine Reminiszenz an Projekt Eiertanz sozusagen.

Heute soll es um Videoüberwachung gehen. Es wird heutzutage in Bahnen und auf Bahnhöfen überwacht, was das Zeug hält, und es wird jeden Tag mehr, unter anderem, weil Ausschreibungen häufig videoüberwachte Fahrzeuge vorschreiben. Die Kameras sind zumindest in den Fahrzeugen mittlerweile fast ausschließlich sogenannte Dome-Kameras, glänzend schwarze Halbkugeln, die einigermaßen vandalensicher sind und nicht erkennen lassen, in welche Richtung das Objektiv zeigt oder ob überhaupt eines eingebaut ist. Da das erklärte Ziel der Überwachung zumeist die Bekämpfung von Sachbeschädigungen ist, konnte man zumindest bisher davon ausgehen, dass die vorderste Kamera in vielen Fahrzeugen Attrappe ist; manche Verkehrsbetriebe überwachen ganz offen nur die hinteren Fahrzeugteile, andere Betriebe montieren überall Gehäuse bzw. Attrappen und installieren nur auf besonders problematischen Linienläufen wirklich Kameras. Die Kosten für die Überwachungstechnik sinken jedoch, und vermutlich sind die Tage von Kameraattrappen über kurz oder lang gezählt - andererseits: In Wien brüstet man sich mit dem Einbau von bis zu 24 Kameras pro Fahrzeug, die sich angeblich teilweise gegenseitig überwachen, um Vandalismus an der Technik zu verhindern; da fragt man sich, ob wirklich in allen Fahrzeugen alle Gehäuse belegt sind.
Üblicherweise werden die Videodaten im Fahrzeug selber in einer Schleife aufgezeichnet, so dass beispielsweise bloß die Daten der letzten 48 Stunden erhalten bleiben.

Es gibt Verkehrsbetriebe, wo tatsächlich nur diese 24- oder 48-Stunden-Schleifen existieren. (Eventuell kann bei einem beobachteten Vorfall der Fahrer die Löschung eines gewissen Zeitraums um diesen herum durch Knopfdruck verhindern.) Die Aufzeichnungsfestplatte kann teilweise wirklich nur durch physischen Ausbau mit Hilfe zweier verschiedener Schlüssel, die nicht an dieselbe Person ausgegeben werden, ausgewertet werden. Gegen diese Praxis hat, sofern Schilder auf die Überwachung hinweisen, auch der institutionalisierte Datenschutz nichts einzuwenden. Sie findet auch bei der Bahnhofsüberwachung ihren Einsatz.
Andererseits existieren mittlerweile diverse Techniken, mit denen Fahrzeugüberwachungsdaten kontinuierlich oder diskontinuierlich an Zentralstellen weitergereicht werden können, um auch in Fahrzeugen Echtzeitüberwachung zu ermöglichen. Dies liegt auf der Hand für automatische Züge wie in der Nürnberger U-Bahn, ansonsten steht wohl ebenfalls die Einsparung von Begleitpersonal bzw. die Entlastung des Lokführers im Vordergrund, also ähnliche Motivationen wie bei der Bahnhofsüberwachung.

Diese mittlerweile enorm verstärkte Videoüberwachung auf Bahnhöfen ist zumindest im Bereich der DB der Strategie geschuldet, Sauberkeit, Sicherheit und Service in sogenannten »3S-Zentralen« für ganze Regionen zusammenzuziehen. Die Videoübertragung an große, dauernd besetzte Leitstellen mit zahlreichen Bildschirmen ersetzt dabei, zusammen mit Informationsanzeigen und Gegensprechanlagen (die bekannten halb roten, halb blauen Stelen) die persönliche Anwesenheit von Aufsichtspersonal - oder soll es zumindest. Da bei der 3S-Zentrale eventuell auch der direkte Einsatz von Sicherheitspersonal beim Beobachten einer Tat ausgelöst werden kann, ist die Rechtfertigung für eine Echtzeit-Überwachung nach gängiger Ansicht deutscher Datenschutzbeauftragter gegeben. Fragwürdig ist, dass es teilweise kooperierte Sicherheitszentralen von DB-Konzernunternehmen sowie Landes- und Bundespolizei gibt; auch ist nicht immer klar, in welchem Maße aufgezeichnet wird.

Das Spektrum zwischen Vandalismusbekämpfung sowie »Terrorprävention« und Ähnlichem ist dabei natürlich fließend. Als im Mainzer Hauptbahnhof eine Echtzeit-Gesichtererkennung (erfolglos) getestet wurde, ging es sicherlich nicht nur darum, damit irgendwann einmal Sprayer, Scratcher und Polsterschlitzer zu ertappen. Man würde sich eine Übersicht über die Video-Überwachungspraxen und eingesetzten Techniken aller deutschen Verkehrsbetriebe wünschen (in welchem Ausmaß es z.B. Funkstrecken gibt, über die dauernd oder bei bestimmten Halten Videodaten aus Bussen und Bahnen an ortsfeste Relaisstationen weitergereicht werden, und ob diese Übertragungen sicher sind, fände ich interessant); so etwas scheint es aber derzeit nicht zu geben.
- Dass mir im früher vielfach vandalisierten und generell urinstinkenden Aufzug zum Ortenbergsteg am Marburger Hauptbahnhof neulich eine frisch eingebaute Dome-Kamera entgegenblinkte, erfüllt mich nicht unbedingt mit Furcht, insbesondere, da der Aufzug im Vergleich zu früher erstaunlich intakt schien und nach Frühlingsblumen duftete. Aber warum kann es nicht neben der Kamera ein Schild geben, das mir verbindlich mitteilt, was mit der Aufzeichnung passiert? Ich glaube nicht an die große Verschwörung der »Internetausdrucker« gegen »uns da unten«, wie sie im Informatikerweltbild oft vorgesehen scheint. Aber mehr Problembewusstsein seitens der Kamerabetreiber wäre schon nicht schlecht, Gesetzeslage hin oder her.
Bild: Denny Yuniarta (»noraxx«) bei Flickr (Details und Lizenz)

Freitag, 17. Juli 2009

101: Achsenkreuz

In Berlin geht es derzeit hoch her. Die S-Bahn, die über Jahre ständig neue Benutzungsrekorde verbuchte und als eines der besseren, wenn nicht besten Schienenverkehrssysteme der Welt gilt, verkehrt mit starken Einschränkungen: Linien sind eingestellt worden oder enden früher, die Züge sind kürzer und fahren in ausgedünnten Takten. Mitfahrzentralen blühen, halbwegs normale Zustände werden wohl erst gegen Weihnachten einkehren. (Normalität ist allerdings relativ, für die nächsten zirka sieben Jahre bleibt ja durch die ständig wechselnden Bauzwischenzustände am Ostkreuz [siehe Prellblog 2] ein unterhaltsames Großhindernis im Netz.) Wie kommt's?
Es geht wieder einmal um das Dauerproblem nicht nur deutscher Züge in diesen Zeiten; das Problem, zu dessen Bewältigung vor über 130 Jahren die Begriffe der Dauerfestigkeit und der Materialermüdung eingeführt und die modernen Materialwissenschaften begründet wurden (durch August Wöhler, einen Eisenbahningenieur): das Problem brechender Achsen und Räder.

Am 1. Mai dieses Jahres ist in Berlin-Kaulsdorf ein S-Bahn-Zug der DB-Baureihe 481 entgleist. Bei dieser Baureihe (inzwischen ein Bombardier-Produkt) handelt es sich um die neuesten, eigentlich ziemlich beliebten, Triebzüge im Retro-Design, Baujahre 1996 bis 2004. Ihr gehören 500 der ca. 685 Züge der S-Bahn an; ihr hat man das ziemlich junge Durchschnittsalter des Berliner Wagenmaterials hauptsächlich zu verdanken.

Die Entgleisung wurde durch eine gebrochene Radscheibe verursacht, und unmittelbar darauf wurde die Untersuchung von Radsätzen an den 481er-Zügen forciert, was zu ersten Fahrzeugknappheiten und damit Fahrplaneinschränkungen führte. Bald darauf ordnete das Eisenbahn-Bundesamt an, 170 Züge bis zur Untersuchung und gegebenenfalls Auswechslung der Radsätze abzustellen; da die Kapazität der Werkstätten für die verlangten Prüfverfahren begrenzt ist, hat dies den Fahrzeugpark drastisch reduziert.
Mittlerweile sind noch schärfere Auflagen verhängt worden, da die Räder wohl weniger aushalten, als ursprünglich angenommen, und der S-Bahn-Betrieb auf der Stadtbahn wird ab Montag eingestellt, auf dem Ring und auf den Außenlinien extrem beschränkt. Die DB hat die Führung der S-Bahn Berlin GmbH ausgetauscht und verspricht den Stammkunden als kleine Entschädigung kostenloses Fahren im Dezember.
Am Horizont kündigt sich aber etwas an, dem gegenüber die Berliner S-Bahn-Achsenprobleme harmlos anmuten: Das Bundesamt möchte, wohl aufgrund des ebenfalls durch einen Achsbruch ausgelösten Kesselwagenunglücks in Viareggio, auch sehr große Anzahlen von Güterwagenradsätzen prüfen lassen. Es ist die Rede von über 100 000 betroffenen Fahrzeugen.

Man erinnert sich noch an den Radsatzbruch bei einem ICE im vergangenen Juli, der wegen verkürzter Wartungsintervalle und verschärfter Untersuchungen über längere Frist zu Einschränkungen und Ersatzverkehren im Fernverkehr geführt hat; man erinnert sich an die seit Jahren andauernden Schwierigkeiten mit den Achsen von Neigetechnik-Nahverkehrstriebwagen, und natürlich an die durch einen gebrochenen Radreifen angestoßene Fehlerkaskade, die zur Katastrophe von Eschede geführt hat. Die Radsätze von Zügen sicher, wirtschaftlich und schnell zu warten ist offenbar nach wie vor eine Herausforderung. Ich fühle mich nicht qualifiziert, dazu Stellung zu beziehen, wie sehr oder wenig der Spardruck in der liberalisierten Bahnwirtschaft diese Probleme verschärft. Man sieht auch, welche Probleme dadurch entstehen, wenn man ein ganzes Eisenbahnnetz ganz oder nahezu ausschließlich mit Fahrzeugen eines Typs betreibt. Es gibt ja immer noch Menschen, die es bedauern, dass seinerzeit nicht der gesamte deutsche Eisenbahnverkehr auf einen einzelnen Typ Universallokomotive umgestellt wurde...
In Berlin wird es auf jeden Fall noch länger unangenehm bleiben, auch wenn mittlerweile angeblich »eine verlässliche Handlungsbasis in der zeitlichen Taktung und Umsetzung der Wiederherstellung der Flottenverfügbarkeit entstanden ist« (Zitat Ulrich Homburg, Vorstand Personenverkehr, DB AG) besteht. Es ist abzusehen, dass die Einstellung der Berliner Politik zur S-Bahn Berlin GmbH sich ändern mag. Zeitweise war schließlich sogar die Kündigung des Verkehrsvertrages im Gespräch gewesen; zumindest für die Neuausschreibung 2017 bzw. die mögliche Teilausschreibung der Nord-Süd-Strecken 2013 könnte es Konsequenzen bedeuten. Bisher war stillschweigend klar gewesen, dass die S-Bahn Berlin GmbH als Gewinnerin einer Neuausschreibung des Gesamtnetzes gesetzt ist. Das scheint vorbei.

Damit es bei aller Planbarkeit nicht langweilig wird, müssen in ganz Deutschland übrigens ab sofort handstreichartig an Dieseltriebwagen des Typs Regio-Shuttle Turbolader, die für Brände verantwortlich zu sein scheinen, getauscht werden. Es sind nicht immer nur die Achsen.

Bild: Alexander »really nothing« bei Flickr (vollständiges Bild, Details und Lizenz)