Donnerstag, 26. April 2007

7: Schräglage

Geht man mit schweren Schienen, Schwellen und Schotter großzügig um, kann man auf malerisch gewundenen alten Eisenbahnstrecken schneller fahren als ursprünglich vorgesehen. Nur würde das die Fahrgäste in Kurven stärker beuteln als gut ist. Der aus gutem Grund gesetzlich vorgeschriebene Fahrkomfort begrenzt das Tempo noch vor der Streckenführung.
Die Idee, trotzdem schneller zu fahren, indem man den Zug in den Kurven nach innen neigt, was die Querkräfte kompensiert, kennt man seit mindestens 1938, und es gibt unzählige technische Realisierungen. Leider ist die Geschichte der Neigetechnik weitenteils eine Geschichte von Fehlschlägen gewesen. Ausfälle und Fehlkonstruktionen begleiten sie von den 1960ern bis heute und von Großbritannien bis Neuseeland. Die Bundesbahn kämpfte mit erfolglosen Prototypen; die heute von der DB eingesetzten gut 260 Nahverkehrs-Neigezüge und die 19 neigefähigen Diesel-ICE hatten ausnahmslos alle Probleme, von kaputten Schlingerdämpfern bis zu bruchanfälligen Radsatzwellen. (Die 71 elektrischen Neige-ICE tun glücklicherweise, was sie sollen.)

Auch wenn sie laufen: Die Züge sind teuer in Erwerb und Wartung, wie auch der schwerere Oberbau und die technische Absicherung des Überschreitens der regulären Streckenhöchstgeschwindigkeit. Aber etwas muss es bringen, wenn man sich dies auf mittlerweile über 2000 Streckenkilometern leistet und kräftig weitere Ausbauten plant. In der Tat spart man sich einiges an Fahrzeit, vor allem, da man nicht nur in Kurven selber schneller fährt, sondern auch das Herunterbremsen und Beschleunigen drumherum verkürzt. Auf 390 Kilometern zwischen Nürnberg und Dresden beziffert man die Einsparung auf 40 Minuten (13%). Das ist allerdings ein Traumwert; die einstmalige Euphorie, flächendeckend 30% herausholen zu können, ist mittlerweile verklungen. Oft bringt die Neigung nur ein paar Minuten. Außerdem sind alle bisher gebauten Neigezüge aus technischen Gründen hochflurig, was die Fahrzeitkürzung durch ebenerdigen Einstieg verbaut (siehe Prellblog 5: Rein, raus, runter, rauf).

Könnte man mit mehr Neigung den Eisenbahnverkehr nun effektiver fördern als mit teuren Streckenbauten und Ähnlichem?
Neubaustrecken haben gegenüber Neigetechnik den Vorteil, dass sie neue Kapazitäten schaffen - auch für Güterzüge. Neigezüge fressen schlimmstenfalls sogar Kapazitäten auf, was weitere Ausbauten nötig macht. Außerdem sind die Geschwindigkeiten auf Neubaustrecken doch sehr viel höher (250-300 km/h statt 160-200 km/h) und die Neutrassierung macht die Fahrstrecke kürzer.
Neigetechnik hat ihre Domäne dort, wo die Strecken kurvig und verhältnismäßig wenig befahren sind. Unschlagbar ist ihr Kosten-Nutzen-Verhältnis, wo sie bewirkt, dass Anschlüsse einen Takt früher sicher erreicht werden, und dadurch Netzeffekte entfaltet. Und dafür können Minuten entscheidend sein.

Dies ist der zweite Artikel einer unregelmäßigen Serie im Ressort »Hochgeschwindigkeit« zu den Rahmenbedingungen des Schnellverkehrs in Deutschland.

Bild: Photocapy bei Flickr (vollständiges Foto, Details und Lizenz)

Donnerstag, 19. April 2007

6: Wer vorne sitzt

Europa braucht Lokführer. Der Beruf, der einmal Chiffre für Kinderträume war, leidet unter Nachwuchsmangel und allgemeiner Personalknappheit. Die »Gewerkschaft der Lokführer« schätzt, dass alleine der größten deutschen Güterbahn Railion (DB-Tochter), 450 Leute fehlen; und es gibt in Deutschland mehrere hundert Eisenbahnunternehmen aller Größen. Ähnliches hört man aus der Schweiz und Österreich.
Die Gründe sind einsichtig: Personalabbau durch Rationalisierung, der die letzten Jahre alle europäischen Bahnen, ob privatisiert oder nicht, betroffen hat, dazu Fehleinschätzungen der Verkehrsentwicklung. Die wundern nicht, angesichts dessen, dass sogar die schienenfreundlich rechnende EU die derzeitigen Wachstumsraten nicht vorausgesehen hat.
Ich will angelegentlich kurz skizzieren, was Lokführer eigentlich sind und worin der Mangel besteht.
Eigentlich heißt die Tätigkeit in Deutschland inzwischen Eisenbahnfahrzeugführer oder allgemein -dann auch bei Straßenbahnen- Schienenfahrzeugführer. (Die DB sagt Triebfahrzeugführer oder Lokrangierführer, je nach Tätigkeit.) Man kann das in drei Jahren IHK-geprüft gelernt haben und heißt dann Eisenbahner im Betriebsdienst, Fachrichtung Lokführer und Transport. Anders als früher gibt es heute diverse Ausbildungsbetriebe.
Man kann aber auch eine Kurzschulung, die teilweise weniger als ein halbes Jahr dauert, belegen. Am Ende steht stets der Eisenbahnfahrzeugführerschein, den es erst seit 2002 gibt und der bald europaweit standardisiert wird.
Damit kann man nun noch nicht auf eine Lok klettern und wegfahren. Wer einen bestimmten Fahrzeugtyp fährt, muss dafür speziell geschult worden sein. Außerdem dürfen Strecken nur mit Streckenkenntnis allein befahren werden - das heißt, man muss vorher einmal einen erfahrenen Kollegen begleitet haben. Das ist der Grund dafür, warum oft zwei Leute im Führerstand eines Zuges sitzen, obwohl eine Person zum Fahren reicht; eine fährt, der andere erwirbt Streckenkenntnis, oder frischt sie auf, da sie sonst nach zwei Jahren verfällt.
Es wird schnell klar: Das Problem ist nicht nur, genügend Leute zu haben, die wissen, wo bei einem Zug das Gas und die Bremse liegen; die Leute müssen genau die Kombination aus Strecken- und Typenkenntnis haben, die man braucht, um mit einem bestimmten Zug eine bestimmte Strecke zu fahren. Dabei ist die Streckenkenntnis im Zweifelsfall schnell erworben, schlimmstenfalls fährt ein Lotse mit; die Typenkenntnis ist problematischer, da die entsprechenden Lehrgänge weder kurz noch billig sind. Und es gibt allein in Deutschland grob geschätzt 150 verschiedene Triebfahrzeugtypen.

Auf der einen Seite geht es also darum, mehr Lokführer auszubilden. Auf der anderen kann man aus den vorhandenen Personalressourcen mehr herausholen, indem man dafür sorgt, dass Leute mit Strecken- und Typenkenntnis zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort sind. Vor allem letzteres ist eine Marktlücke, die mittelständische Firmen zunehmend schließen.
Die beliebte Lösung, die vorhandenen Leute mit immer engeren Schichtplänen besser auszunutzen -unter Zerstörung eines eventuell bestehenden Privatlebens-, ist jedenfalls nicht endlos durchzuhalten.

Bild: Peter van den Bossche (alias LHOON) bei Flickr (vollständiges Foto, Details und Lizenz)

Donnerstag, 12. April 2007

5: Rein, raus, runter, rauf

Wer weiß, welchen Akt es bedeuten kann, in alte Nahverkehrswagen zu klettern, kann sich ausmalen, wie es zuging, bevor der Bahnsteig erfunden wurde. Und obwohl das über hundert Jahre zurückliegt, hat allein die DB im vergangenen Monat vierzehn neue Bahnsteigkanten fertiggestellt.
Nötig ist das, weil die neuen höher sind als die meisten alten Kanten. Internationale Standardhöhe ist heute 76 cm über Schienenoberkante. Im Regionalverkehr sind 55 cm üblich. Ältere S-Bahnen haben 96 cm. Die Unterschiede führen dazu, dass viele Bahnhöfe Bahnsteigkanten unterschiedlicher Höhe haben. Warum?
Es soll zwischen Wagenboden und Bahnsteig möglichst keine Stufe geben. Das hat viele Vorteile, nicht nur für Rollstühle, Kinderwagen, Rollenkoffer etc.; jedes Ein- und Aussteigen beschleunigt sich erheblich. Sind alle Halte stufenfrei, kann sich die Fahrzeit ceteris paribus um zehn Prozent verkürzen. (Nebenbei verwandeln sich Gruppen von Fahrradtouristen von einer Landplage in beliebte Fahrgäste.)
Früher musste man dafür die Bahnsteige auf die Höhe des Wagenbodens konventioneller Fahrzeuge hochbauen: Der alte S-Bahn-Standard. Leider kann man an solchen Bahnsteigen nicht mit Güterzügen vorbeifahren - entweder die Ladung oder die Kantensteine würden das nicht überstehen. Also die Begrenzung auf 76 cm. Fernverkehrszüge haben weiter den hohen Boden (unter anderem wegen Aussicht und Fahrkomfort), und so muss man auch in die neuesten ICE hinaufsteigen.
Es gibt mittlerweile aber Fahrzeuge, bei denen die Eingangsschwelle tiefer liegt, also auf genau 76 cm oder gar 55 cm. Dazu wird der Wagenboden teilweise oder komplett tiefer (»niederflurig«) gebaut. Beides ist technisch nicht ohne.
Will man noch tiefer, muss man damit zurechtkommen, dass ein Schienenfahrzeug Achswellen hat (zur Terminologie siehe Prellblog 14). Die sind nun einmal auf halber Höhe der Räder, und unter ihnen durchbauen kann man den Fußboden schlecht. Es gibt Kunstgriffe: Zum Beispiel sogenannte Portalachsen, wo die Räder über Getriebe mit der Achswelle verbunden sind. Diese kann man dadurch tiefer legen, so dass man bis auf straßenbahntaugliche Einstiegshöhen um die 30 cm herunterkommt. Die Antriebstechnik verlegt man weitgehend aufs Dach.
Abgefahren wird es, wenn man die Achswelle ganz weglässt und Einzelräder benutzt. Treibt man die dann über Motoren an, die nicht unter dem Fußboden, sondern senkrecht in der Wand eingebaut sind, kann man so weit herunterkommen wie bei den »Ultra-Low-Floor«-Zügen der Wiener Straßenbahn, wo der Einstieg nur noch 18 cm hoch liegt (Weltrekord). Leider muss man erheblichen elektronischen Aufwand betreiben, damit die Radpaare sich so benehmen, als gebe es eine Achse, weil ansonsten die Schienen und Räder ruiniert werden.

Auch wenn eine handelsübliche Bordsteinkante dann reicht: Einen Bahnsteig braucht man immer.

Bild: Eigene Aufnahme

Donnerstag, 5. April 2007

4: Echt schnell

Der französische Gleisnetzbetreiber RFF, die Staatsbahn SNCF und der Bahntechnikkonzern Alstom feierten vorgestern den neuen offiziellen Eisenbahn-Geschwindigkeitsweltrekord des TGV (574,8 km/h). In Spanien werden planmäßige Züge bald 350 km/h fahren. Passend dazu behandelt das Prellblog heute Thomas' Frage, ob man im Personenverkehr mit »mehr echten Hochgeschwindigkeitsstrecken« Zuwächse erreichen könnte.
Was ist eine echte Hochgeschwindigkeitsstrecke? Und bringen mehr davon mehr Personenverkehr auf die Schiene?

Grober Konsens ist, dass man bei fahrplanmäßig deutlich über 200 km/h von Hochgeschwindigkeit spricht, also bei allen neuen deutschen Fernstrecken und den Ausbauabschnitten Hamburg-Berlin und Köln-Aachen. Im Bau sind die Strecken Nürnberg-Halle/Leipzig, Augsburg-München und der Katzenbergtunnel. Fest geplant sind die restlichen Ausbauabschnitte der Rheintalbahn und die Neubaustrecke Stuttgart-Ulm. All das ist sehr teuer (siehe Prellblog 21).

Die zweite Antwort ist hochkompliziert. Prinzipiell animieren kürzere Fahrzeiten Leute zum Zugfahren; leider gehört dazu oft, mit Städten das zu machen, wofür sich das Wort »abhängen« eingebürgert hat, da Fahrzeit und Kundenzahl im Einzugsgebiet der Halte meistens umgekehrt proportional sind. Dass Deutschlands längste Hochgeschwindigkeitsstrecke über Göttingen führt, finden manche sinnlos - andere stört, dass sie keinen Schlenker über Frankfurt macht.
Fundamentalisten meinen ohnehin, dass alle nötigen Fernstrecken bereits vor 1973 existierten und man sie nur hätte ausbauen müssen. Geschwindigkeiten über 160 km/h gelten als tendenziell unnötig, auf Hinweise auf die abenteuerliche Trassierung der Strecken aus dem 19. Jahrhundert reagiert man mit dem Ruf nach Neigetechnik. Mehr Fahrgäste auf die Schiene holen will man über niedrigere Fahrpreise und mehr Service.
Dagegen stehen die, die gerne den Erfolg des TGV in Frankreich nachvollzögen: Mehr Fahrgäste durch mehr Schnellstrecken, weniger Zwischenhalte, beim Streckenneubau keine Rücksicht auf den Güterverkehr oder kleinere Städte.
Bei beiden Seiten ist jedes Argument wegen deutscher Besonderheiten anfechtbar (das Thema wird Prellblog noch lange begleiten). Einig ist man sich, dass man einen integrierten Taktfahrplan braucht, wie er seit 1971 stufenweise realisiert wird. Es drängt sich der Verdacht auf, dass der Status quo vielleicht doch nicht so verkehrt ist.

Die Verkehrssteigerungen der letzten Jahre verkraftete das Netz unter Ächzen. Wenn die Eisenbahn weiter Marktanteile zurückholt, wird es noch enger. Streckenneu- und -ausbau sind unvermeidlich, und es ist vielleicht sinnvoller als es anfänglich aussieht, mit Großprojekten die Knoten durchzuschlagen, als immer weiter Flickwerk zu betreiben, vor allem, weil Dauer und Kosten der Planung genauso berücksichtigt werden müssen wie die des Baus. Und wenn man in großen Maßstäben denkt, kann man auch gleich für den Hochgeschwindigkeitsverkehr planen.
Insofern bin ich vorsichtig, zum Beispiel die beliebte vernichtende Kritik an der Strecke Nürnberg-Halle/Leipzig zu teilen. (Man sieht dort zugegebenermaßen auch deutsche Ingenieurshandschrift: Einen kreuzungsfreien Abzweig mitten in eine mehrere Kilometer lange Talbrücke zu bauen, fällt gewissermaßen in die Kategorie »irgendwo muss ja der Spaß herkommen«.)

Letztlich lautet die Antwort: Ja. Für mehr Verkehr braucht man vernünftige Ausbauplanung, und das heißt, auch Schnellstrecken.

Dieser Artikel ist der Beginn einer Serie zum Thema im Ressort »Hochgeschwindigkeit«.

Bild: Encino bei Wikimedia Commons (Details und Rechtefreigabe)