Dienstag, 27. Oktober 2009

Langläufer

Da ich übers Wochenende verreist war und der ganze Tag gestern zum Erholen draufging, verschiebt sich der Beitrag auf mindestens morgen. Dafür habe ich gestern die Recherche für einen eher ungewöhnlichen Artikel angestoßen, der dem Prellblog eventuell sogar das erste Interview bescheren könnte.

Montag, 19. Oktober 2009

112: Das Bildungssystem

Maschen, ein größeres Dorf am Rand der Lüneburger Heide, ist ein durch die A250 zweigeteilter Ort, der unter Nichtkennern der Eisenbahn höchstens dafür bekannt ist, dass dort der wilde, wilde Westen anfängt. Dass ausgerechnet dort vor vier Tagen eine Baumaßnahme im Volumen von nahezu einer Viertelmilliarde Euro, bei der unter anderem 120 Kilometer Gleis erneuert werden sollen, angelaufen ist, klärt sich erst beim Blick auf eine Luftaufnahme.

Da entpuppt sich der Ort selber nämlich als geradezu nebensächliches Anhängsel an einem riesigen, doppelten Bündel von Gleisen, das sieben Kilometer lang und siebenhundert Meter breit in der norddeutschen Tiefebene liegt, und auf dem sich aus der Luft viele kleine bunte Güterwagen erkennen lassen. Maschen ist Heimat des zweitgrößten Rangierbahnhofs der Welt und des größten Europas.

Rangierbahnhöfe hat man bereits einmal für grundsätzlich überholt gehalten, und in vielen Ländern gibt es gar keine mehr. Dies liegt an der Natur ihrer Tätigkeit und am Strukturwandel des Eisenbahngüterverkehrs.
Ein Rangierbahnhof löst das Problem, dass Güter auf der Bahn von vielen Orten in unterschiedlichen Mengen versandt und an viele Orte ausgeliefert werden, Züge aber umso wirtschaftlicher fahren, je länger sie sind. Dies geschieht dadurch, dass Wagen an verschiedenen Orten eingesammelt, in einem gemeinsamen Zug zu einem Rangierbahnhof geschickt werden, dass dieser dort zerlegt und auf neue Züge verteilt wird, die dann die Weiterverteilung übernehmen.
Die technische Realisierung dieses Auftrags gehört dabei zum Imposantesten, was die Eisenbahn zu bieten hat. Das Grundprinzip besteht darin, die eingehenden Züge in Kolonnen ungekuppelter, ungebremster Einzelwagen aufzulösen und diese so kontrolliert über eine kleine Kuppe (Ablaufberg) im Gleis zu schubsen, dass man zwischen den einzelnen Wagen Zeit hat, Weichen umzustellen, so dass sie in die Zielgleise rollen. Die praktische Umsetzung ist hochkomplex und heutzutage über Computer koordiniert; in modernen Rangierbahnhöfen schließt sie ferngesteuerte Lokomotiven ein, die die Wagen über den Ablaufberg schieben, radargesteuerte Gleisbremsen, die die Räder der Wagen von unten packen, um sie zu verzögern, und zwischen den Schienen der Zielgleise laufende Förderwagen, die die sortierten Wagen zum Kuppeln zusammenschieben. Der Nürnberger Rangierbahnhof, der keinen Ablaufberg in der Ebene hat, sondern gleich komplett im Gefälle liegt, hat Tausende von kleinen Bremselementen und klappbare Prellböcke, die Wagengruppen vor dem Wegrollen sichern können. Die Kapazität moderner Rangierbahnhöfe ist denn auch gewaltig - selbst unter der erschwerten Bedingung, dass in Europa nach wie vor keine automatische Kupplung eingeführt wurde (Prellblog 8), schafft Maschen eine maximale Rangierleistung von 165 Wagen pro Stunde und Richtung. (Der größte aller Rangierbahnhöfe, Bailey Yard, Nebraska, hat zwar insgesamt mehr Durchsatz, schiebt davon aber weniger über die Ablaufberge.)

Nur wird, und deswegen auch die dräuende Einleitung zu diesem Artikel, diese Kapazität nicht wirklich ausgenutzt, da der Eisenbahnverkehr nicht mehr alle mit allen verbindet wie früher vielleicht einmal, sondern immer mehr so genannte Ganzzüge gefahren werden - Züge, die nirgendwo zeit- und arbeitsaufwändig umgebildet werden, sondern direkt und über Nacht von Punkt zu Punkt fahren, meistens von einem Seehafen in ein fernes Land (gerne Italien). Auch gehören in Deutschland (bis auf den ehemals stillgelegten in Wustermark) alle Rangierbahnhöfe der DB, während gerade beim Ganzzugverkehr die Konkurrenz immer größere Marktanteile erringt. Bisher hat sich der Einzelwagenverkehr gerade für die DB als Einnahmequelle überraschend gut halten können; die Schließung aller Rangierbahnhöfe, von der bei Schwarzsehern noch vor fünf bis zehn Jahren gerne die Rede war, ist abgewendet, wenn sie je zur Debatte stand. Doch trotzdem fordern die Zeiten ihren Tribut.
Die anfangs genannte Erneuerung in Maschen ist nicht nur eine Renovierung und allgemeine Aufmöbelung der Anlage, sondern auch eine Umstrukturierung, die Teile der Sortieranlage opfert, um mehr lange Gleise für den nächtlichen Langstreckenverkehr einrichten zu können. Außerdem soll neuere Technik Arbeitsplätze einsparen, da der Güterverkehr bekanntlich in allen Sparten unter gewaltigem Kostendruck steht.

Die Viertelmilliarde für die Großbaustelle im wilden, wilden Westen dokumentiert somit gleichzeitig das Überleben des Totgeglaubten, aber auch, dass Eisenbahn kein Freilichtmuseum sein kann, wenn sie überleben will. Vielleicht wird es in Deutschland irgendwann keine Ablaufberganlagen mehr geben, weil die Riesenflächen der Rangierbahnhöfe besser für flache Gleisanlagen und Containerterminals genutzt werden können. In Lehrte soll nach jahrzehntelangem Gehader demnächst der Bau einer Umschlaganlage beginnen, in der Container zwischen Ganzzügen umgeladen werden sollen, so dass gemischte Züge ohne Rangieren möglich sind (aber eben nur für Container und Wechselbrücken). Vielleicht kommt irgendwann aber auch die automatische Kupplung, der selbstfahrende Güterwagen und der Einzelwagenverkehr boomt? Es bleibt wie immer spannend.

Bild: Robert Ashworth bei Flickr (Details und Lizenz)

Montag, 12. Oktober 2009

111: Wer fährt, der zahlt

Nach dem Regierungswechsel wird sich in der Verkehrs- und Technikpolitik allgemein sowie in der Bahnpolitik speziell wohl einiges tun in Deutschland. Das Negativszenario ist wohl dieses: An der Struktur des DB-Konzerns, seiner Finanzierungswege und der Eisenbahnaufsicht ändert sich nichts, die Mittel für die Bahn werden rundum drastisch gekürzt, für die Straße gibt es massenweise frisches Geld, überlange Lkw werden deutschlandweit zugelassen, die Lkw-Maut wird nicht erhöht, dafür vollständig in den Straßenbau umgeleitet, es werden weder Tempolimit noch Pkw-Maut eingeführt, und es tut sich auch nichts auf dem Gebiet einer dringend nötigen Neuregelung der Bezuschussung kommunaler Verkehrsbauten.
Wer weiß, ob es so kommt. Möglich ist es sicher.

So oder so ist die FDP in die laufenden Koalitionsverhandlungen wohl mit der Position gegangen, dass sich die einzelnen Verkehrsinfrastrukturen weitergehend selber tragen sollten als derzeit, und das sei auch der Aufhänger für diesen Beitrag. Wie der Straßenverkehr durch den Staatshaushalt herangezogen wird, um Ausbau und Unterhaltung seiner Infrastruktur zu finanzieren, ist allgemein bekannt: Kfz-Steuer, Energiesteuer (die Ex-Mineralölsteuer), Lkw-Maut, auf kommunaler Ebene Parkgebühren und Anwohnerbeiträge. Wie wird nun aber das Eisenbahnverkehrsunternehmen, das Züge fahren lässt, zu Ausbau und Unterhalt der genutzten Infrastruktur herangezogen? Der Staat kassiert zwar, trotz seit Jahren anhaltender energischer Forderungen, dies zu ändern, Energiesteuer auf Bahndiesel und Stromsteuer auf Bahnstrom und er bezuschusst Ausbau- und Instandsetzungmaßnahmen der Eisenbahninfrastrukturunternehmen (in erster Linie natürlich der Quasimonopolist DB Netz). Das ist aber längst nicht alles. Die Haupteinnahmen erzielen die Infrastrukturbetreiber durch Nutzungsentgelte.
Die Grundeinheit der Netznutzung (und auch der Fahrplankonstruktion) heißt bei der Eisenbahn Trasse. Eine Trasse ist das Recht, zum Zeitpunkt T von A nach B zu fahren. Für Trassen erheben die Infrastrukturunternehmen bei Eisenbahnunternehmen Trassenpreise. Deren Gestaltung ist gar nicht so unkomplex.


DB Netz erhebt zum Beispiel je nach Bedeutung und Maximalgeschwindigkeit der Strecke einen Grundpreis von 1,59 bis 8,09 Euro pro Trassenkilometer. Der niedrigste Preis wird dabei nicht für einfachste Nebenstrecken (die sind sogar relativ teuer), sondern für überwiegend durch S-Bahnen genutzte Strecken vergeben, was auf Grund der DB-Dominanz der deutschen S-Bahn-Netze bereits ein Geschmäckle hat. Der Grundpreis wird bei DB Netz dann je nach Nutzungsart (Personen oder Güter, langsam oder schnell, Einbindung in ein Taktsystem oder nicht) mit einem Faktor zwischen 0,5 und 1,8 multipliziert. Die billigsten, die Güterverkehrs-Zubringer-Trassen, lassen sich allerdings nur zwischen Güterverkehrsstellen und Rangierbahnhöfen der DB bestellen, wenn Anschluss an eine sonstige Güterverkehrstrasse besteht. Auch das riecht danach, dass hier konzernintern bevorteilt werden soll. Insgesamt öffnet sich jedenfalls eine Schere zwischen einem theoretischen Minimalpreis von 0,80 Euro und einem theoretischen Maximalpreis von 14,56 Euro pro Trassenkilometer.
Da hört der Spaß aber noch längst nicht auf. Der Grundpreis kann durch verschiedene Zusatzfaktoren oder pauschale Zusatzentgelte weiter steigen: Faktor 1,2 für besonders stark ausgelastete Strecken; Faktor 1,5 bei einem Zug mit einer Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h oder weniger; Regionalfaktoren zwischen 1,05 und 1,78 in besonders personalintensiven Nebenstreckennetzen; 92 Cent pro Trassenkilometer Zuschlag für Züge über dreitausend Tonnen. Auf der anderen Seite gibt es Mengenrabatte von bis zu 5 % für die Gesamtlaufzeit eines Rahmenvertrages, zeitlich beschränkte Sonderangebote für wenig ausgelastete Strecken und 10 % Neukundenrabatt! Ein kompliziertes Anreizsystem mit »Minutenkonten« plant irgendwie ein, dass Verspätungen auftreten, aber von verschiedener Seite verschuldet sein können, es gibt Entschädigungen, wenn die Trasse nicht im vereinbarten Zustand befahrbar ist oder eine Umleitung besteht, Angebots- und Stornierungsentgelte.

Das klingt, wenn man sich wegdenkt, dass immer noch ca. 70 % der Trassen DB-konzernintern vermarktet werden und die Tarifstruktur darauf hin optimiert ist (wo nicht rechtlich anderes erzwungen wurde), eigentlich gar nicht so schlecht. Der Haken ist nur, dass selbst die höchsten Trassenpreise alles andere als kostendeckend sind, mithin erhebliche staatliche Instandsetzungs- und Ausbauzuschüsse bereits einkalkuliert sind.
Zum Negativszenario gehört daher noch eine Klausel: Eventuell wird Schwarz-Gelb ganz im Sinne von Wettbewerbsneutralität und Liberalität die DB rechtlich oder durch Kürzungsdruck dazu zwingen, ihre Trassenpreise näher an die Kostendeckungsgrenze zu bringen - ohne dagegen irgend etwas dafür zu tun, dass auch alle Straßenverkehrsteilnehmer entsprechend stärker belastet werden.

Der Idealfall wäre es meiner Meinung nach, wenn sowohl Straßen- als auch Schieneninfrastruktur jeweils vollständig über Mauten bzw. Trassenpreise finanziert würden. Zur Gegenfinanzierung könnte man dann gerne auch die Energiesteuer wieder senken - mich stört es nicht, wenn die Luxemburger in Trier tanken.

Bild: Marcin Wichary bei Flickr (vollständiges Bild, Details und Lizenz)

Sonntag, 11. Oktober 2009

Glücklich getrennt reloaded

Ich habe mal die neueste Version des Silbentrennungsskripts, das ich hier verwende, eingespielt. Mal schauen, ob das Vorteile bringt.

Montag, 5. Oktober 2009

110: Laufend Nummern

In einem anonymen Kommentar zum Prellblog 107 wurde ich gefragt:
Wieso erwähnst du nicht, dass [elektronische Stellwerke] vollautomatisch funktionieren?
Dies ist der in meiner Replik angekündigte ausführliche Beitrag zum Thema. Es stimmt, elektronische Stellwerke, die heute der Goldstandard der Steuerung von Weichen, Signalen und anderen Stellelementen sind, funktionieren im Normalbetrieb tatsächlich »vollautomatisch«, aber das ist keine neue Erfindung. Es fragt sich auch, was »vollautomatisch« bei einem Stellwerk überhaupt heißen kann.
Schon bei den guten alten Relaisstellwerken, deren Logik in Form von Kilometern bunter Kabel und regaleweise elektromechanischen Bauteilen realisiert war, passierte ziemlich viel automatisch - durch Niederdrücken (in Ostdeutschland häufig auch: durch Hochziehen) zweier Druckknöpfe für Start- und Zielpunkt einer Fahrstraße wurden selbsttätig alle Weichen dafür gestellt. Früher musste jede Weiche einzeln mit Hebeln oder Drehknöpfen gestellt werden, wobei spezielle Blockiermechanismen dafür sorgten, dass dies zur beabsichtigten Fahrstraße passte.

Was der namenlose Kommentator jedoch eher meint, wenn er »vollautomatisch« schreibt, ist der so genannte Selbststellbetrieb beziehungsweise die Zuglenkung. Im einen Fall ist ein Bahnhof so konfiguriert, dass bei Einfahrt eines Zuges in ein bestimmtes Gleis automatisch die Ausfahrt in ein bestimmtes anderes Gleis gestellt wird. Ein Stellwerk muss so oder so über Sensoren verfügen, um zu erkennen, ob sich in bestimmten Gleisabschnitten Züge befinden oder nicht; das wird über verschiedene elektrische Systeme erledigt, die letztlich alle auf die Präsenz oder das Passieren von Achsen reagieren und denen das Prellblog irgendwann auch noch eine Folge widmen wird. Diese Sensoren können nun auch direkt Fahrstraßeneinstellungen auslösen.
Im anderen Fall wird nicht nur erkannt, dass da überhaupt ein Zug ist, sondern auch, um welchen Zug es sich handelt, und dieser entsprechend auf einem bestimmten Weg geleitet. Da es handelsüblicherweise keine Sensoren gibt, die in ein Stellwerk Informationen über die Identität eines Zuges einspeisen können, wird dazu üblicherweise eine Kennziffer in die Stellwerkslogik eingegeben, wenn der Zug in den Stellbereich einfährt, in der verschlüsselt ist, wo der Zug hin soll.
Im besten Falle ist diese Kennziffer einfach die Zugnummer. Und damit hätten wir auch gleich einen der Gründe dafür, warum Züge diese bis zu fünfstelligen Nummern tragen. Natürlich dient die Nummer auch bei Logbucheintragungen, im Funkverkehr und für die immer wieder beliebte Ansage »Triebfahrzeugführer 47110 bitte Türen freigeben!« zur Identifizierung des Zuges.
Die innere Logik der Zugnummer ist recht komplex; bestimmte Nummernbereiche sind bestimmten Zugarten beziehungsweise bestimmten DB-Tochterunternehmen (oder externen Unternehmen) vorbehalten, manchmal sind grobe geographische Verläufe ähnlich codiert wie in den Nummern der Bundesautobahnen, und Zug und Gegenzug unterscheiden sich durch gerade beziehungsweise ungerade Endziffer. In besseren elektrischen und in praktisch allen elektronischen Stellwerken werden diese Nummern auch auf der Anzeigetafel oder am Bildschirm dargestellt und hüpfen jeweils, wenn gemeldet wird, dass ein Zug von einem Abschnitt in einen anderen fährt, weiter.

Bild: Kostas Krallis (»SV1XV«) bei Wikimedia Commons (vollständiges Bild, Details und Lizenz)