Freitag, 20. April 2012

161: Unten durch

In konservativen Landstrichen und Städten tendiert die Politik dazu, den öffentlichen Verkehr inklusive der Eisenbahn eher kurz zu halten und auch für gute Fußläufigkeit (»walkability«) und Fahrradfreundlichkeit wird dort weniger getan als in progressiveren Weltgegenden. Die (um mit Kant zu sprechen) Proportionalanalogie Bahn(-verbund):Autoverkehr = links:rechts ist ein hochkompliziertes Verhältnis, in dem Ursache und Wirkung schwer identifizierbar sind und das möglicherweise mit Zusammenhängen wie den folgenden zu tun hat (skizziert unter anderem durch Will Oremus auf Slate.com):
  • Die Landbevölkerung wählt tendenziell konservativer, auf dem Land ist es aber generell immer schwerer, ohne Auto glücklich zu sein;
  • die konservative Wählerschaft ist wohlhabender, fährt daher ein eigenes Auto und sieht staatliche Investitionen in öffentliche Verkehrsmittel als nicht wünschenswerte Transferleistungen an Ärmere;
  • die progresssive Wählerschaft ist tendenziell weniger wohlhabend oder fährt aus Prinzip kein Auto, daher ballt sie sich dort zusammen, wo man gut ohne Auto auskommt;
  • öffentliche Verkehrsmittel werden von Randgruppen frequentiert, mit denen Konservative ungern zu tun haben;
  • gut ausgebaute Bahnnetze führen zu dichteren Siedlungsmustern, in denen diversere Bevölkerungsgruppen aufeinander gestoßen werden, was die Einwohnerschaft tendenziell progressiver denken lässt;
  • es gibt gemeinsame Faktoren (in den USA z.B. Küstennähe und Alter einer Stadt), die sowohl Konservativismus als auch Bahn-Affinität beeinflussen;
  • ...
Warum ist dies ein aktuelles Thema? Der bayerische Ministerpräsident Seehofer hat dieser Tage verkündet, dass die seit Jahren umstrittene zweite S-Bahn-Stammstrecke (siehe Prellblog 125) in München nun doch nicht gebaut werden soll, da er (CSU) sich nicht mit dem Münchner Oberbürgermeister Ude (SPD) auf eine Vorfinanzierung durch Stadt und Land einigen konnte, die die Lücke bis zum finanziellen Engagement des Bundes für den Streckenbau schließen sollte. Interessanterweise waren es hier aber die Konservativen, die die Maßnahme wollten, während die Progressiven sich dagegen stellten. Die Grünen im Münchner Stadtrat waren sogar von Anfang an dagegen und keilen jetzt gegen die SPD, die sich zu lange auf den Tunnel statt möglichen Alternativlösungen festgelegt hätte. Die Frontstellung ist genau umgekehrt wie die, die man hätte erwarten können (die linke Stadt will ein Bahnprojekt durchziehen, das konservative Land will das Geld lieber in Umgehungsstraßen stecken).
Man könnte nun vermuten, dass Seehofer und Ude hier einen Scheinkonflikt hochkochen und insgeheim Arm in Arm erleichtert darüber sind, dass München die nicht ganz auszuschließenden Stuttgart-21-mäßigen Last-Minute-Proteste erspart bleiben - sozusagen kollektiver Selbstmord aus Angst vor dem Tod. Man könnte unterstellen, dass hier wieder einmal das Schonender-Ausbau-Syndrom zugeschlagen hat, das gerade in der grünen Verkehrspolitik seit jeher wütet und die Vorstellung fördert, man könne die Verkehrsinfrastruktur dramatisch verbessern, ohne jemandem weh zu tun und ohne viel Geld auszugeben (siehe Prellblog 136). Oder vielleicht ist der Tunnel in seiner mittlerweile stark abgespeckten Planung einfach um so vieles zu teuer, dass sich Zweifel einstellen, ob nicht doch der Ausbau einer Ringstrecke (hier der so genannte Südring) statt der hochbelasteten Stammstrecke quer durch die Innenstadt rentabler wäre. Diese Diskussion gab es übrigens in ähnlicher Form, allerdings auf den Fernverkehr bezogen, bei der Planung des Eisenbahnkonzepts für Berlin nach dem Mauerfall. Statt der Ringlösung hat sich dort allerdings die große Lösung (»Pilzkonzept«) mit vier neuen großen Bahnhöfen und viel Tunnelbau durchgesetzt.
Ich kenne den Diskurs in München zu wenig und kann auch keinen Tipp dazu abgeben, ob irgend ein (im Zweifel bundespolitischer) Deus ex machina den zweiten Stammstreckentunnel rettet oder dann doch Alternativplanungen kommen, und was dies für das »andere große Ding« im Münchner Schienenverkehr bedeutet, nämlich die seit der Aufnahme von Planungen für einen Flughafen-Transrapid in die Agenda gekommende Verbesserung der Flughafenanbindung, zu der auch das unter »Erdinger Ringschluss« fungierende Paket diverser gewaltiger Maßnahmen zum Umstricken des S-Bahn-Netzes gehört. Spannend dürfte auch sein, ob die überfällige große Umgestaltung des Hauptbahnhofs bei einem Verzicht auf den zweiten Stammstreckentunnel eher früher oder eher später kommen wird.
Bild: in-world professionals bei Flickr (Details und Lizenz)