Dienstag, 25. Januar 2011

149: Umlaufrendite

Vor meinem Fenster zerkleinert ein Bagger mit Abbruchhammer eine Halde mit Betonteilen, die einmal der Hausbahnsteig des Marburger Bahnhofs waren, und die Kantensteine für den neuen Bahnsteig stehen schon daneben. Aber darum soll es heute nicht gehen, sondern um Größeres.
Was sich im Moment in der deutschen Eisenbahnwirtschaft und -politik abspielt, ist von derartiger Tragweite, dass vielleicht einmal die Rede von einer »Bahnreform II« sein wird. Grob zusammengefasst:

  • Unter dem Eindruck der erheblichen Probleme bei der Eisenbahn in diesem Winter hat der Bund die Absicht geäußert, die Investitionen in das Eisenbahnnetz auf einen Stand hochzutreiben, wie sie zuletzt 2000 waren, in den besten Zeiten rotgrüner Versuche, mehr in die Schiene zu investieren.
  • Interessanterweise wird trotzdem daran festgehalten, die Deutsche Bahn in Zukunft eine jährliche Dividende von einer halben Milliarde Euro an ihren Eigentümer zahlen zu lassen, was darauf hindeutet, dass die Politik allmählich angefangen hat zu verstehen, dass die Eisenbahn etwas anderes ist als die Firma DB.
  • Zudem möchte man die DB dazu zwingen, ihre Erlöse aus dem Netzbetrieb (das heißt, vor allem aus Trassen- und Servicegebühren) in das Netz zu reinvestieren, statt sie konzernintern beliebig einsetzen zu können. Eventuell soll DB Netz sogar gleich ganz aus dem Konzern herausgerissen werden. In jedem Fall könnte dies den »Hebel« für Bundesinvestitionen in das DB-Netz schlagartig vergrößern, denn eine Umsetzung dieses Plans würde wohl dazu führen, dass die -bereits jetzt im Gegensatz zur üblichen Vorstellung meist mehr als nur symbolischen- Eigenanteile der DB bei der Finanzierung von Sanierungen und Ausbauten heraufgesetzt werden, da die in der mittelfristigen Finanzplanung vorgesehene jährliche Abführung von mehr als einer Milliarde Euro an Netzeinnahmen in den Restkonzern entfiele.
  • Als Trostpflästerchen für die seit Jahren mit der Fahrzeugindustrie verkrachte DB soll das Allgemeine Eisenbahngesetz eventuell so geändert werden, dass mehr Möglichkeiten entstehen, Hersteller von Eisenbahnmaterial für Qualitätsprobleme, die zu Störungen führen, in die Pflicht zu nehmen.
  • Das Kartellamt hat eine außergerichtliche Einigung zwischen Deutscher Bahn und Abellio über die Aufteilung der Verkehrsleistungen im Verkehrsverbund Rhein-Ruhr untersagt, so dass der Bundesgerichtshof (vermutlich heute) eine Grundsatzentscheidung fällen wird. Es wird erwartet, dass die bisher üblichen freihändigen Vergaben dicker Verkehrsverträge an die Nahverkehrstöchter der DB in Zukunft unmöglich werden und alle Verkehrsleistungen in den Ausschreibungswettbewerb kommen. Angesichts der unterirdischen Servicequalität von DB Regio Nordrhein-Westfalen, der S-Bahn Berlin und anderer DB-Töchter ist nicht damit zu rechnen, dass die Politik versuchen wird, diese Tür dann wieder zu öffnen (zu den Hintergründen siehe Prellblog 59). Die letzten, immer wieder mit nach Mauschelei riechenden Methoden verlängerten Reste des Staatsbahnmonopols im Nahverkehr würden damit verdampfen.
  • Und wie um zu verhindern, dass im Zuge der in den nächsten Jahren bevorstehenden Ausschreibung mindestens der Hälfte, aber wie zu vermuten sogar des gesamten deutschen Schienennahverkehrs massiv mit Lohndumping und Zweckgesellschaften gearbeitet wird, ist in der deutschen Eisenbahnbranche ein Flächentarifvertrag für den Nahverkehr abgeschlossen worden.
Dass all dies geschieht, liegt nicht daran, dass die Bahnreform »gescheitert« sei, wie gerne behauptet wird, sondern daran, dass sie Fehler hatte, die nach wie vor nicht behoben sind, andererseits aber durch die erhebliche Zunahme des Bahnverkehrs in den letzten Jahren und die höhere Präsenz des Themas in den Medien mittlerweile erkannt wird, dass regelmäßiges Abstauben bestimmter fragwürdiger Phrasen (»Verkehr auf die Schiene verlagern«) und ansonsten die Pflege der DB als »nationalem Champion« nicht mehr reichen, sondern dass die DB, so verhältnismäßig gut sie sich dort, wo sie auf den Markt achten muss, auch macht, sich mit ihren Versuchen, letzte Monopolrenditen zu erwirtschaften, selbst ein Bein stellt. Wenn die im Netz erwirtschafteten Mittel in dieses selbst zurücklaufen müssen und alle Verträge einmal abgelaufen sind, ist die zu erwartende Rendite für die Volkswirtschaft mehr Qualität und mehr Verkehr bei der Eisenbahn pro investiertem Staats-Euro. Das ist eine gute Nachricht für die gesamte Bevölkerung dieses Landes.

Bild: Andrew Houser (»sushipumpum«) bei Flickr (Details und Lizenz)

Sonntag, 16. Januar 2011

148: In Unterzahl

Die verschiedenen Eisenbahngesellschaften in Deutschland, vor allem natürlich die Deutsche Bahn, leiden seit Jahren unter verschiedentlichem Fahrzeugmangel: Nahezu alle Triebzüge mit Neigetechnik und eine ganze Reihe sonstiger Züge hatten und haben Achsprobleme; die Flotte der Berliner S-Bahn hat nicht nur diese, sondern leidet auch unter diversen Krankheiten, von denen nach wie vor nicht ganz zu klären ist, inwieweit die Konstruktion und inwieweit das fragwürdige Wartungsregime für sie verantwortlich sind (siehe Prellblog 101). Dass nahezu alle neueren ICE mit verschiedenen technischen Problemen zu kämpfen haben und die DB weder mit ihrer Qualität noch ihrem Preis zufrieden ist, sollte mittlerweile Allgemeinwissen sein. Knapp 80 nagelneue S-Bahn- und Nahverkehrszüge vom Typ Bombardier Talent 2 können nicht eingesetzt werden, weil Software- und Fertigungsprobleme und Schwierigkeiten bei der Zulassung nicht nur monatelange Verzögerungen bewirken, sondern sogar die Verschrottung neu gebauter Einheiten erfordert haben; andere Züge vom Typ Alstom Coradia Continental wurden aus vergleichbaren Gründen zu spät in Dienst gestellt und sind bis heute nicht so verfügbar, wie man sich das wünschen würde. Die guten alten InterCity-Wagen der DB werden demnächst ein zweites Mal neu aufgearbeitet, nachdem bereits vor fünf Jahren der Versuch, 1000 neue Wagen zu beschaffen, gescheitert ist, und die derzeitigen Verhandlungen über die Beschaffung von 300 IC- und ICE-Triebzügen bei Siemens alles andere als blendend verlaufen.
Ein Lichtblick in all der Trübsal sind die bekannten und beliebten Doppelstockwagen von Bombardier, die als die zuverlässigsten Fahrzeuge im Fuhrpark der DB gelten, mittlerweile auch für die Konkurrenz (vor allem den Metronom) fahren, kontinuierlich weiterentwickelt werden und anscheinend auch preislich zu reellen Konditionen zu bekommen sind, vor allem für die DB, da großzügige Rahmen- und Optionsverträge bereits bestehen. An der Entscheidung, diese Fahrzeuge auch im Fernverkehr einzusetzen, überrascht daher eigentlich nichts außer der DB-untypischen Zügigkeit, mit der dieses Projekt beschlossen wurde.
Vor vier Tagen wurden Details verkündet: 27 fünfteilige Züge samt Lokomotiven soll Bombardier für den Fernverkehrseinsatz liefern. Wenn alles gut läuft, werden wir 2013 die ersten weiß-rot gestrichenen Doppelstockzüge auf InterCity-Linien sehen, ausgestattet mit Reservierungsanzeigen, Gepäckregalen, Steckdosen, Kinderspielbereich, Fahrradstellplätzen und »Fernverkehrsmöblierung«, nur leider ohne Speisewagen; unterwegs sollen sie eine Spitzengeschwindigkeit von 160 km/h, vielleicht -mit anderen Lokomotiven- sogar 185 km/h, erreichen, je nachdem, was das Eisenbahnbundesamt dazu meint. Natürlich können diese Züge dann nur auf Zugläufen eingesetzt werden, wo keine langen Abschnitte mit 200 km/h befahren werden müssen, aber davon gibt es im IC-Netz durchaus noch genug. Es kann auch davon ausgegangen werden, dass, falls irgend wann einmal nötig, ein Umrüsten der Züge für den Nahverkehrseinsatz unproblematisch ist. Mit der bewährten Bombardier-Technik (Doppelstockwagen und Drehstromlokomotiven) lassen sich ganz sicher auch Züge für 200 km/h realisieren. Auch von den doppelstöckigen Wagen abgeleitete einstöckige Wagen hat der kanadische Konzern im Angebot (siehe Prellblog 42). Zumindest die für niedrigere Geschwindigkeiten (also für den Ersatz der alten ICs, nicht der alten ICEs) vorgesehene Tranche der Siemens-Bestellung, über die seit Monaten verhandelt wird, könnte die DB also eventuell fallen lassen, wenn es hart auf hart kommt. Die DB sendet jedenfalls ein deutliches Signal an Siemens: Es geht auch ohne den Hoflieferanten.

Bild: Andrew Filer bei Flickr (Details und Lizenz)

Sonntag, 2. Januar 2011

Frohes Neues!

Auch wenn es vor Weihnachten nicht mehr mit einem neuen Artikel geklappt hat: Das Prellblog wünscht allen Leserinnen und Lesern ein wunderschönes neues Jahr 2011. Gerade hier in Mittelhessen wird dies (wieder) ein spannendes Eisenbahnjahr werden, aber zweifellos wird es auch aus dem Rest des Landes genug zu berichten geben.

147: Schleifen lassen

Ich habe hier zwar bereits vor langen Jahren über Oberleitungen geschrieben (siehe Prellblog 3), aber mir war damals schon klar, dass ich irgendwann noch einmal einen Artikel zum Thema würde schreiben müssen, einfach weil mich das Gewirr, das da über einem vorbeisaust, mit seiner scheinbar schwer zu begründenden Komplexität schon immer fasziniert hat. Erst heute bin ich soweit, dass ich dazu einen knappen, aber umfassenden technischen Überblick geben kann.
Da hängt also dieser Kupferdraht in einer definierten Lage über dem Gleis, damit der Zug von unten mit seinem Stromabnehmer daraus Strom entnehmen kann. Dazu muss es natürlich irgend eine Aufhängekonstruktion geben. Aber warum sieht die gerade so aus, wie sie aussieht (und sie sieht eher bizarr aus, siehe Bild)?
Der Fahrdraht ist einen guten Zentimeter dick und besteht aus reinem Kupfer oder einer hoch kupferhaltigen Legierung. Sein Querschnitt ist rund, aber oben seitlich eingekerbt. Er wird von kurzen, senkrechten »Strippen«, so genannten Hängern, gehalten, die unten mit Klemmen am Draht und oben an einem Tragseil befestigt sind, das in durchhängenden Bögen (einer Kettenlinie, daher auch die Bezeichnung Kettenwerk für die ganze Haltekonstruktion) von einem Oberleitungsmasten zum nächsten verläuft. Nur direkt auf Höhe des Masten führen die Hänger nicht direkt zum Tragseil, sondern zu einem sogenannten Beiseil, das zwischen zwei Punkten des Tragseils wiederum in einer Kettenlinie gespannt ist. So ergibt sich die typische Silhouette der Fahrdrahtaufhängung, die an eine stilisierte, filigrane Hängebrücke erinnert.
Dabei ist das Tragseil natürlich nicht direkt am Fahrleistungsmasten befestigt, sonst müsste der Zug ja durch die Masten fahren. Es gibt statt dessen Ausleger. Diese bestehen aus einem Metallrohr, das schräg vom Tragseil hinunter zum Mast führt; sein höchster Punkt ist außerdem noch einmal durch ein waagerechtes Seil oder Rohr (je nach Belastungsart) mit dem Mast verbunden. Beide Teile sind dabei nicht etwa einfach festgeschraubt, sondern zwischen ihnen und dem Mast gibt es einen Isolator (da sonst der Mast unter Spannung stünde) und ein Schwenkgelenk. Der ganze Auslegerapparat muss sich nämlich nach links und rechts bewegen können, wenn sich Fahrdraht oder Tragseil durch Temperaturänderungen in ihrer Länge ändern. Die Drähte und Seile sind auch nicht endlos wie die Schienen, sondern eben wegen dieser Längenänderungen in einzelnen, bis etwa 1500 Meter langen Abschnitten angeordnet, an deren Ende sich Spannvorrichtungen befinden: die Gerätschaften aus Stapeln von Betongewichten (»Keksen«) und gezahnten Umlenkrädern mit Sperrklinken. In der Mitte eines solchen »Nachspannabschnittes« sind Draht und Seil fixiert. Die Sperrklinken dienen nur dazu zu verhindern, dass bei einem Riss in der Oberleitungskonstruktion die Gewichte herunterrasseln. Der Übergang von einem Abschnitt zum anderen erfolgt, indem sich die beiden eine kurze Strecke überlappen, in der sie elektrisch miteinander verbunden sind.
Damit ist jetzt klar, wie der Fahrdraht horizontal gespannt, in der korrekten Höhe gehalten und seine Längsausdehnung kompensiert wird, aber seine seitliche Position ist noch nicht fixiert. Jetzt kommen die restlichen Metallteile an den Masten hinzu: unten am schwenkbaren Ausleger ist nämlich ein nahezu waagerechtes, auf und ab bewegliches Teil angelenkt, der Seitenhalter. Vorne ist er wieder mit einem Hänger am Ausleger (oder am Beiseil) aufgehängt. Und an diesem Seitenhalter hängt jetzt noch ein Seitenhalter, und zwar an jedem Mast ein anderer. Die Länge und die Montagerichtung sind so gewählt, dass der Fahrdraht von oben gesehen eine Zickzacklinie bildet: so schleift er keine Rille in den Stromabnehmer ein, sondern nutzt diesen gleichmäßig ab. Die vertikale Bewegungsfreiheit des Seitenhalters sorgt dafür, dass der Draht dem Anpressdruck des Stromabnehmers kontrolliert einige Zentimeter nachgeben kann, sich die sich daraus ergebenden Schwingungen aber schnell wieder beruhigen und sich keinesfalls aufschaukeln. In Kurven, über Weichen und in anderen Sondersituationen gibt es verschiedenartige Zusatzvorrichtungen, die die korrekte Lage des Fahrdrahtes sicherstellen; sie zu beschreiben, würde hier den Rahmen sprengen.

Und so sorgen Tonnen von Kupferdraht und Bronzeseil nebst Dutzenden von Kleinteilen wie Klemmen, Schellen, Spangen und Ösen dafür, dass Züge mit 200, 300, 320, 360, ja 380 Kilometern pro Stunde fahren können und doch mit einem Kontakt immer sicher und ohne Funkenflug an einer Leitung, die Spannung im fünfstelligen Voltbereich führt, entlangschleifen. Ich weiß nicht, wie es meinen LeserInnen geht, aber ich finde den schieren technischen Aufwand schon beeindruckend, vor allem aber die Tatsache, dass sich diese Anlagen bei aller Komplexität nicht nur wirtschaftlich betreiben, sondern im Störfall auch relativ fix reparieren lassen.
Wo der Strom herkommt und wie er unten wieder aus dem Zug rausfließt, ist übrigens eine andere Geschichte und soll ein andermal erzählt werden.

Bild: Sebastian Terfloth bei Wikimedia Commons (Details und Lizenz)