146: Kleineisen
Im Prellblog gibt es fast keine externen Links, und ich verhandle auch kaum direkt die Berichterstattung anderer Medien. Heute mache ich allerdings eine Ausnahme, nicht nur, weil mich ein Freund auf den Artikel, den ich kommentieren möchte, gestoßen hat, und dieser sich vielleicht für meine Meinung interessieren könnte, sondern weil der Text so ungeheuer idealtypisch ist für die gängige »kritische« Berichterstattung über Eisenbahn in Deutschland.
Es geht um Tim Engartners Artikel »Die Maschen des Netzes« im Online-»Freitag«, der vollmundig mit dem Satz »Stuttgart 21 bleibt Symptom einer verfassungswidrigen Bahnpolitik« eröffnet, und dann keinen der üblichen Topoi auslässt. Um die verwendeten Worthülsen umfassend zu dokumentieren, müsste ich den ganzen Artikel zitieren. Engartner lässt nichts aus: da baut die »Börsenbahn« einige Bahnhöfe zu »prestigeträchtigen ›Erlebniswelten mit Gleisanschluss‹« aus, während auf dem Land »oft Tristesse« herrsche. Verfallende Verkehrsstationen, verfallende Empfangsgebäude, privatisierte Toiletten, die angebliche Schließung »der« Bahnhofsmissionen (die werden also alle geschlossen?, denkt die LeserIn da womöglich) und »private Sicherheitsdienste«, die Obdachlose vertreiben, werden in einem Atemzug genannt.
Das »Bahnhofssterben« ist ohnehin der Kern der Argumentation, und die Formulierungen sind dabei so unpräzise, dass man ohne Kenntnisse der Materie tatsächlich glauben könnte, die DB verkaufe komplette Bahnhöfe an Privatinvestoren, und dort hielten danach keine Züge mehr:
Die Realität sieht natürlich ganz anders aus: Verkauft werden nicht mehr gebrauchte Empfangsgebäude, die meistens schon seit Staatsbahnzeiten Schrottimmobilien sind, und bei denen man oft froh sein kann, wenn überhaupt noch etwas anderes damit zu machen ist als der Abriss. Verkehrsstationen, also Bahnsteige und Zuwegungen, werden in der Regel weder geschlossen noch verkauft, sondern seit Jahren in massiven, stark von Bund und Land geförderten Sanierungsprogrammen auf Vordermann gebracht, was eigentlich an niemandem vorbei gegangen sein kann, der öfter als einmal pro Jahrzehnt dieselbe Strecke fährt. Ich habe früher einmal eine Liste von Bahnhofssanierungen gepflegt, die schnell völlig unübersichtlich wurde, eben weil so viele stattfinden. (Engartners Artikel impliziert übrigens durch Auslassung, dass es diese gewaltigen Staatsinvestitionen in Bahnhofsumbauten erst seit dem Konjunkturprogramm der letzten Jahre gäbe. Es gibt sie natürlich schon viel länger.) Man kann sich selbstverständlich darüber streiten, ob die DB nicht verpflichtet sein sollte, all die schrottigen Empfangsgebäude und verfallenen Verkehrsstationen aus ihren eigenen Gewinnen zu renovieren; man darf aber nicht verschweigen, dass dies dann selbst im optimistischsten Falle etwa zehnmal langsamer vorankäme als derzeit, weil es bei Bahnhöfen einen Investitionsrückstand in geschätzt zweistelliger Milliardenhöhe gibt. Man kann auch überlegen, ob es in einer Landschaft, in der zunehmend Bahnhöfe existieren, an denen kein einziger DB-Zug mehr hält, nicht irgendwie sinnvoll sein könnte, dass jemand anderes als die DB diese betreibt.
Der Verkauf eines Bahnhofsgebäudes an privat mag nicht der Parteilinie der Staatsbahnfreunde entsprechen, ist aber auf Grund der berüchtigt suboptimalen Fähigkeiten der DB als Immobilienbetreiberin häufig ein Segen. Dass in einem »privatisierten« Bahnhofsgebäude dann gerne ein Nicht-DB-Akteur auf eigene Rechnung Fahrkarten verkauft (z.B. ein Franchisenehmer von DB ServiceStore, eine Agentur wie z.B. ein Reisebüro, eine Privatbahn, ein kommunaler Verkehrsbetrieb oder ein Verbund), scheint Engartner nicht zu wissen, oder vielleicht ist es ihm auch nicht reine Lehre genug, wenn jemand anders als die DB solches tut. (Was wahrscheinlich noch weniger ins Konzept passt und daher im Artikel komplett ignoriert wurde, ist der beliebte Verkauf von Bahnhofsgebäuden an die Kommunen, sei es durch die DB direkt oder die privaten Abnehmer der Immobilienpakete.) Dass die DB seit der Bahnreform nicht mehr der einzige maßgebliche Akteur in der Eisenbahnwirtschaft ist, ist wohl auch an Engartner vorbeigegangen, beziehungsweise sind seine Kenntnisse dazu recht nebulös: dass er die DB-Konzerntochter Usedomer Bäderbahn für eine »Konkurrentin« hält, spricht Bände.
Was die Schließung von Zugangsstellen angeht, muss man noch anmerken, dass das eine fehlgeschlagene Strategie der Bundesbahn war. In den 1970er/1980er Jahren wurden massenhaft Halte abgebaut, um dadurch Fahrzeiten zu kürzen. Heutzutage, in Zeiten von Marktliberalisierung und Ausschreibungswettbewerben, erleben wir eine Gegenbewegung dazu: reihenweise werden im Nahverkehr neue Haltepunkte und Bahnhöfe gebaut oder bestehende verlegt, um näher an Siedlungen heranzurücken (in Hessen z.B. Gießen-Oswaldsgarten, Biedenkopf Schulzentrum, Darmstadt Lichtwiese).
Am Ende kommt dann noch die obligatorische Behauptung, die DB vernachlässige den Verkehr in der Fläche und konzentriere sich einseitig auf Hochgeschwindigkeitsverkehr auf bestimmten Strecken und Komfort für Geschäftsreisende, wo doch eigentlich dichtere Vermaschung und besserer Nahverkehr gebraucht würden. Es ist sogar die Rede davon, die DB verfolge eine Hub-and-Spoke-Strategie; da gerät Engartner schon dadurch in Erklärungsbedarf, dass zum Beispiel im Frankfurter Hauptbahnhof längst nicht alle ankommenden Züge enden, und dass Stuttgart 21 das Ziel verfolgt, mehr Durchbindungen zu ermöglichen, also das genaue Gegenteil von Hub-and-Spoke. (Es gab im DB-Fernverkehr tatsächlich mal Überlegungen in diese Richtung, aber das ist viele Jahre her und verschwand berechtigterweise sofort wieder in der Schublade.) Dass der Nahverkehr seit der Bahnreform immens zugelegt hat, dass die Aufgabenträger beziehungsweise Besteller und nicht die DB darüber entscheiden, wieviel Nahverkehr fährt, dass der Ausschreibungswettbewerb quasi immer, und zwar egal ob die DB oder die Konkurrenz gewinnt, zu Qualitätssteigerungen und mehr Fahrgästen führt, dass es in den letzten Jahrzehnten massenhaft Reaktivierungen von Strecken gegeben hat, dass Regionalstadtbahnsysteme entstanden sind, dass die Verknüpfung von Fernbahn, Straßenbahnen und Bussen sich nahezu überall kontinuierlich verbessert - das fällt bei Engartner alles hinten runter.
Ich will Tim Engartner notabene keinen Sondervorwurf machen. Seinen Artikel lese ich seit Jahren immer wieder unter anderem Titel und von anderen Autoren in anderen Medien, aber Inhalt und Stimmung sind immer dieselbe. Er ist nicht unterinformierter als all die anderen auch. Der »Freitag« verhandelt Bahnpolitik auf der üblichen Höhe, und das heißt, auf der Höhe des Jahres 1998 oder eher 1993. Das Traurige dabei ist, dass es auch diesmal kaum jemand merken wird, weil es die Medien und die breite Öffentlichkeit insgesamt kaum erreicht hat, was sich seitdem geändert hat; und dass deswegen die wahren Skandale, zum Beispiel die (u.a. wegen seiner freihändigen Vergabe) extrem miese Qualität des DB-Nahverkehrs im drittgrößten Ballungsraum Kontinentaleuropas, zwischen den ewig gleichen Aufregern nicht auffallen.
Bild: Thomas Then bei Wikimedia Commons (Details und Lizenz). Das Foto stellt den Bahnhof Landsberg (Kleinstadtbahnhof des Jahres 2007) dar, der von der ideal mobil AG, München, betrieben wird.
Es geht um Tim Engartners Artikel »Die Maschen des Netzes« im Online-»Freitag«, der vollmundig mit dem Satz »Stuttgart 21 bleibt Symptom einer verfassungswidrigen Bahnpolitik« eröffnet, und dann keinen der üblichen Topoi auslässt. Um die verwendeten Worthülsen umfassend zu dokumentieren, müsste ich den ganzen Artikel zitieren. Engartner lässt nichts aus: da baut die »Börsenbahn« einige Bahnhöfe zu »prestigeträchtigen ›Erlebniswelten mit Gleisanschluss‹« aus, während auf dem Land »oft Tristesse« herrsche. Verfallende Verkehrsstationen, verfallende Empfangsgebäude, privatisierte Toiletten, die angebliche Schließung »der« Bahnhofsmissionen (die werden also alle geschlossen?, denkt die LeserIn da womöglich) und »private Sicherheitsdienste«, die Obdachlose vertreiben, werden in einem Atemzug genannt.
Das »Bahnhofssterben« ist ohnehin der Kern der Argumentation, und die Formulierungen sind dabei so unpräzise, dass man ohne Kenntnisse der Materie tatsächlich glauben könnte, die DB verkaufe komplette Bahnhöfe an Privatinvestoren, und dort hielten danach keine Züge mehr:
Wurden zwischen 1994 und 2006 bereits mehr als 1.200 Bahnhofsgebäude veräußert und mehrere hundert geschlossen, sollen nach im Februar 2007 bekannt gewordenen Plänen mittel- bis langfristig weitere 1.800 der noch verbliebenen 2.400 Stationen mit Empfangsgebäude geschlossen oder verkauft werden. [...] Doch schon jetzt ist die „Bahnhofsdichte“ massiv gesunken: Lag diese Mitte der sechziger Jahre in Westdeutschland noch bei 4,1 Kilometern, findet sich nunmehr entlang des seit 1994 um ein Drittel geschrumpften Schienennetzes nur noch alle sieben Kilometer ein Bahnhofsgebäude.»Stationen mit Empfangsgebäude« sollen »geschlossen oder verkauft« werden: die massenhafte Schließung von Zugangsstellen steht also bevor? Wir müssen alle viel weiter zum Bahnhof laufen, wenn wir Bahn fahren wollen, beziehungsweise müssen uns ein Taxi nehmen? Oder wir können gar nicht mehr Bahn fahren?
Die Realität sieht natürlich ganz anders aus: Verkauft werden nicht mehr gebrauchte Empfangsgebäude, die meistens schon seit Staatsbahnzeiten Schrottimmobilien sind, und bei denen man oft froh sein kann, wenn überhaupt noch etwas anderes damit zu machen ist als der Abriss. Verkehrsstationen, also Bahnsteige und Zuwegungen, werden in der Regel weder geschlossen noch verkauft, sondern seit Jahren in massiven, stark von Bund und Land geförderten Sanierungsprogrammen auf Vordermann gebracht, was eigentlich an niemandem vorbei gegangen sein kann, der öfter als einmal pro Jahrzehnt dieselbe Strecke fährt. Ich habe früher einmal eine Liste von Bahnhofssanierungen gepflegt, die schnell völlig unübersichtlich wurde, eben weil so viele stattfinden. (Engartners Artikel impliziert übrigens durch Auslassung, dass es diese gewaltigen Staatsinvestitionen in Bahnhofsumbauten erst seit dem Konjunkturprogramm der letzten Jahre gäbe. Es gibt sie natürlich schon viel länger.) Man kann sich selbstverständlich darüber streiten, ob die DB nicht verpflichtet sein sollte, all die schrottigen Empfangsgebäude und verfallenen Verkehrsstationen aus ihren eigenen Gewinnen zu renovieren; man darf aber nicht verschweigen, dass dies dann selbst im optimistischsten Falle etwa zehnmal langsamer vorankäme als derzeit, weil es bei Bahnhöfen einen Investitionsrückstand in geschätzt zweistelliger Milliardenhöhe gibt. Man kann auch überlegen, ob es in einer Landschaft, in der zunehmend Bahnhöfe existieren, an denen kein einziger DB-Zug mehr hält, nicht irgendwie sinnvoll sein könnte, dass jemand anderes als die DB diese betreibt.
Der Verkauf eines Bahnhofsgebäudes an privat mag nicht der Parteilinie der Staatsbahnfreunde entsprechen, ist aber auf Grund der berüchtigt suboptimalen Fähigkeiten der DB als Immobilienbetreiberin häufig ein Segen. Dass in einem »privatisierten« Bahnhofsgebäude dann gerne ein Nicht-DB-Akteur auf eigene Rechnung Fahrkarten verkauft (z.B. ein Franchisenehmer von DB ServiceStore, eine Agentur wie z.B. ein Reisebüro, eine Privatbahn, ein kommunaler Verkehrsbetrieb oder ein Verbund), scheint Engartner nicht zu wissen, oder vielleicht ist es ihm auch nicht reine Lehre genug, wenn jemand anders als die DB solches tut. (Was wahrscheinlich noch weniger ins Konzept passt und daher im Artikel komplett ignoriert wurde, ist der beliebte Verkauf von Bahnhofsgebäuden an die Kommunen, sei es durch die DB direkt oder die privaten Abnehmer der Immobilienpakete.) Dass die DB seit der Bahnreform nicht mehr der einzige maßgebliche Akteur in der Eisenbahnwirtschaft ist, ist wohl auch an Engartner vorbeigegangen, beziehungsweise sind seine Kenntnisse dazu recht nebulös: dass er die DB-Konzerntochter Usedomer Bäderbahn für eine »Konkurrentin« hält, spricht Bände.
Was die Schließung von Zugangsstellen angeht, muss man noch anmerken, dass das eine fehlgeschlagene Strategie der Bundesbahn war. In den 1970er/1980er Jahren wurden massenhaft Halte abgebaut, um dadurch Fahrzeiten zu kürzen. Heutzutage, in Zeiten von Marktliberalisierung und Ausschreibungswettbewerben, erleben wir eine Gegenbewegung dazu: reihenweise werden im Nahverkehr neue Haltepunkte und Bahnhöfe gebaut oder bestehende verlegt, um näher an Siedlungen heranzurücken (in Hessen z.B. Gießen-Oswaldsgarten, Biedenkopf Schulzentrum, Darmstadt Lichtwiese).
Am Ende kommt dann noch die obligatorische Behauptung, die DB vernachlässige den Verkehr in der Fläche und konzentriere sich einseitig auf Hochgeschwindigkeitsverkehr auf bestimmten Strecken und Komfort für Geschäftsreisende, wo doch eigentlich dichtere Vermaschung und besserer Nahverkehr gebraucht würden. Es ist sogar die Rede davon, die DB verfolge eine Hub-and-Spoke-Strategie; da gerät Engartner schon dadurch in Erklärungsbedarf, dass zum Beispiel im Frankfurter Hauptbahnhof längst nicht alle ankommenden Züge enden, und dass Stuttgart 21 das Ziel verfolgt, mehr Durchbindungen zu ermöglichen, also das genaue Gegenteil von Hub-and-Spoke. (Es gab im DB-Fernverkehr tatsächlich mal Überlegungen in diese Richtung, aber das ist viele Jahre her und verschwand berechtigterweise sofort wieder in der Schublade.) Dass der Nahverkehr seit der Bahnreform immens zugelegt hat, dass die Aufgabenträger beziehungsweise Besteller und nicht die DB darüber entscheiden, wieviel Nahverkehr fährt, dass der Ausschreibungswettbewerb quasi immer, und zwar egal ob die DB oder die Konkurrenz gewinnt, zu Qualitätssteigerungen und mehr Fahrgästen führt, dass es in den letzten Jahrzehnten massenhaft Reaktivierungen von Strecken gegeben hat, dass Regionalstadtbahnsysteme entstanden sind, dass die Verknüpfung von Fernbahn, Straßenbahnen und Bussen sich nahezu überall kontinuierlich verbessert - das fällt bei Engartner alles hinten runter.
Ich will Tim Engartner notabene keinen Sondervorwurf machen. Seinen Artikel lese ich seit Jahren immer wieder unter anderem Titel und von anderen Autoren in anderen Medien, aber Inhalt und Stimmung sind immer dieselbe. Er ist nicht unterinformierter als all die anderen auch. Der »Freitag« verhandelt Bahnpolitik auf der üblichen Höhe, und das heißt, auf der Höhe des Jahres 1998 oder eher 1993. Das Traurige dabei ist, dass es auch diesmal kaum jemand merken wird, weil es die Medien und die breite Öffentlichkeit insgesamt kaum erreicht hat, was sich seitdem geändert hat; und dass deswegen die wahren Skandale, zum Beispiel die (u.a. wegen seiner freihändigen Vergabe) extrem miese Qualität des DB-Nahverkehrs im drittgrößten Ballungsraum Kontinentaleuropas, zwischen den ewig gleichen Aufregern nicht auffallen.
Bild: Thomas Then bei Wikimedia Commons (Details und Lizenz). Das Foto stellt den Bahnhof Landsberg (Kleinstadtbahnhof des Jahres 2007) dar, der von der ideal mobil AG, München, betrieben wird.
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