Mittwoch, 12. Mai 2010

127: Last Night a D.J. Saved My Life

In Marburg wird, wie im Prellblog schon mehrfach erwähnt, gebaut: Entlang der Trasse der Main-Weser-Bahn durchs Stadtgebiet wird gegraben und Paletten mit Betonsteinen, aus denen neue Kabelkanäle entstehen werden, sind an den Gleisen verteilt. Hier und da steht mal ein Bagger oder fährt einer auf den Gleisen umher.
Das augenfälligste Zeichen für eine Eisenbahnbaustelle ist jedoch die zwischen den Gleisen erkennbare Anordnung aus Blinkleuchten und Lautsprechern in regelmäßigen Abständen, verbunden durch massenweise orange Kabel. Man sieht so etwas recht oft, wo an Bahnstrecken gebaut wird, häufig allerdings nur in Form der in der Dunkelheit plötzlich in den Zug hineinzuckenden gelben Lichtblitze, weswegen die ganze Apparatur auch etwas despektierlich als »Bahndisco« bekannt ist. Richtig heißt es Automatisches Warnsystem (AWS), öfter aber und in wesentlich farbigerem Eisenbahndeutsch Rottenwarnanlage (RWA) - der Ausdruck verdankt sich der archaischen Bezeichnung »Rotte« für eine Gruppe von Gleisbauarbeitern.

Das gelbe Geblinke, häufig verbunden mit lauten Hupsignalen, wird beim Herannahen von Fahrzeugen durch spezielle Gleiskontakte (Bild) eingeschaltet und sorgt dafür, dass die im Gleis Arbeitenden rechtzeitig den durch den Zug gefährdeten Raum freimachen. Im Prinzip ist das die technisierte Version dessen, was bei vielen Baustellen »zu Fuß« durch einen so genannter Sicherungsposten (Sipo) erledigt wird. Der steht einfach nur herum, darf sich mit nichts ablenken (nur rauchen tun sie gerne wie die Schlote) und gibt bei Herannahen des Zuges Laut - früher gerne mit einer Art Bündeltröte, dem so genannten Mehrklanghorn, nach dem Erfinder auch Martin-Trompete oder Martinshorn genannt und tatsächlich der Urahn der Tatü-Tata-Geräte auf dem Dach von Einsatzfahrzeugen ebenso wie der bizarren Instrumente, mit denen die Schalmeienkapellen der linken deutschen Tradition ihren infernalischen Lärm machen; heute meistens mit einer Druckgashupe, bei der man nur auf einen Knopf drücken muss. Sicherungsposten sind übrigens angeblich häufig Hausfrauen, die sich etwas dazu verdienen. Überall, wo gehupt und geblinkt wird, muss es außerdem auch eine Sicherungsaufsicht geben, die das Ganze leitet und verantwortet, und zu Beginn der Arbeiten eine Hörprobe: Dabei müssen alle verwendeten Maschinen auf den maximalen Betriebsgeräuschpegel gebracht werden, anschließend wird gehupt, und wer es hört, hebt den Arm. Nur wenn alle durch den größten Lärm hindurch die Hupe hören konnten, darf gearbeitet werden.

Wenn Sipo oder die sicherere (und bei richtiger Anwendung anwohnerschonendere) Rottenwarnanlage zur Sicherung einer Baustelle nicht ausreichen, muss man entweder die gefährdenden Gleise komplett sperren, was von Nutzern wie Betreibern immer weniger toleriert wird, oder eine so genannte feste Absperrung verwenden. Das sind rotweiße Brüstungen mit geknickten Haltestangen, die so an eine Schiene geklemmt werden, dass sie den durch Züge gefährdeten Bereich genau markieren und sein irrtümliches Betreten fast unmöglich machen.

Alle diese Techniken zusammen erlauben das, was man bei der Bahn in gewohnt bildgewaltiger Sprache das Bauen unter dem rollenden Rad nennt. Mittlerweile kann man fast jede Arbeit, vom Sanieren von Tunneln über den Ersatzneubau von Brücken bis hin zur vollständigen Umgestaltung riesiger Bahnhöfe (siehe Prellblog 2) durchführen, ohne den Bahnverkehr über längere Zeit sperren zu müssen. Bahndisco und kettenrauchende Hausfrauen machen es möglich.

Bild: Eigene Aufnahme

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