Samstag, 16. Mai 2009

95: »Kaufen! Kaufen!«

Im Zug ist man fast nie allein. Früher war das dominierende Element der sozialen Situation beim Zugfahren die Kleingruppe im Abteil; diese Zeiten sind - wie ich finde: glücklicherweise - vorbei, der Großraum ist der Standard. In den letzten Wochen und Monaten hat dies aus unbekannten Gründen das Augenmerk der deutschen Medien gefunden. Kaum eine »Qualitätszeitung«, kaum ein populäres Internetangebot, wo sich in letzter Zeit nicht irgend jemand satirisch, kulturkritisch oder schlicht jammervoll über das Benehmen Mitreisender in der Bahn ausgelassen hat.


Wie kommt das? Ich vermute, dass es damit zu tun hat, dass der Marktanteil der Eisenbahn am Personenverkehr seit einigen Jahren wächst oder zumindest stabil bleibt, mithin Bahnfahren nicht mehr das Nischenphänomen ist, das es einmal war, und durch größere Auslastungen auch Journalisten auf Dienstreise stärker mit ihren Großraumgenossinnen konfrontiert werden als früher.
Die Hauptbeschwerde ist jedenfalls immer dieselbe: Es werde zu laut, zu viel, zu platt telefoniert in den Zügen, das ständige Vollgequatschtwerden sei eine existenzielle Zumutung. Schade, dass es hierzu keine zitierfähigen Vergleichsstudien gibt. Ich erinnere mich natürlich an die unbekümmert und in raumfüllender Lautstärke telefonierende Frau, die mich einmal in der Sitzreihe hinter mir von Saarbrücken bis ungefähr Mannheim begleitet hat, und die selbst die natürlich sofort laut geäußerte Erkenntnis »die lachen hier schon alle über mich« nicht beirren konnte. Vermutlich sind es solche Ereignisse, die auch die ZeitungsschreiberInnen anspornen. Dass das öffentliche Belästigen Dritter mittels Mobiltelefonen nach anfänglichen Exzessen in den letzten Jahren eher wieder abgenommen hat, lässt sich aber auch nicht leugnen. Dass man aktuell einen nachhaltigen Trend hin zum nervigen Telefonieren in Zügen beobachten könne, halte ich für fraglich, genauso wie ich es für fraglos richtig beobachtet halte, dass viel zu viele Leute sich nicht darum scheren, ob sie nun in einer Ruhezone sitzen oder nicht. Ich habe selbst schon mindestens einmal (wenn auch in gedämpfter Lautstärke) in einer Ruhezone telefoniert. Man denkt im entscheidenden Moment nun einmal nicht immer an die Schildchen, die an der Wand kleben.
Natürlich wird nicht nur über Telefonierer, sondern auch über alles andere Übliche gelästert - trinkende Soldaten, gackernde Mädchen, der ach so unterirdische Service der DB, das schlechte Englisch der Durchsagen und was sonst noch aus der Klischeekiste geholt werden kann. Von der Infantilisierung und »Containerisierung« (wie man einst zu Zeiten sagte, als die erste Staffel von »Big Brother« noch eine Bedrohung der abendländischen Kultur schien) bis hin zum totalen Zerfall der Gesellschaft reichen die Diagnosen, die da gestellt werden.

Ich bin noch nicht sehr alt und fahre erst seit gut sieben Jahren intensiv Bahn. Meine Fragen bleiben daher notwendigerweise im Raum stehen: Hat es die Zeiten, da es in allen Großraumwagen flächendeckend still war wie in einer Bibliothek, wirklich gegeben? Und herrscht heute wirklich flächendeckend unerträglicher Radau? Vor allem: Rechtfertigt irgend etwas davon die Überheblichkeit, mit der Journalisten BahnfahrerInnen niederschreiben?

Bild: Diane S. Murphy bei Flickr (vollständiges Bild, Details und Lizenz)

3 Kommentare:

Hans Bonfigt hat gesagt…

Als es noch keine ICE gab, war der IC, das Flaggschiff der DB, schon sehr viel angenehmer und ruhiger.
Es gab noch keine Mobiltelephone, Notebooks waren prohibitiv teuer und vor allem: Das Publikum war anders. Es wurde mehr gelesen. Ich kann mich an eine Begebenheit vor 20 Jahren erinnern, ein Mitreisender hatte ein Buch über Einstein dabei und nach kürzester Zeit unterhielten wir uns darüber, wie Einstein quasi als Katalysator zwischen Boltzmann und Planck gewirkt hatte.
Der Mann war Assistent an einer Uni und es gelang ihm wirklich gut, Boltzmanns thermodynamischen und Plancks quantenmechanischen Ansatz zur Bestimmung der abgestrahlten Leistung eines Körpers zu erklären.
Das war hochspannend und unterhaltsam, für alle Beteiligten, nebenher.

Man gab sich Tips, konnte die Klamotten im Abteil liegen lassen, denn qua Konsens paßten die verbleibenden Passagiere darauf auf, man lieh sich Zeitungen, tauschte Visitenkärtchen oder schimpfte über die Grünen.

Die Manieren im Speisewagen waren auch besser.

Vielleicht rührt mein Eindruck allerdings auch daher, daß man sich in einer Kleingruppe von 4-6 Personen einfach nicht traut, sich danebenzubenehmen ?

mawa hat gesagt…

Dass das schweigende Aufeinanderhocken mit einer Kleingruppe im relativ engen Abteil bereits vor 150 Jahren als sehr unangenehm empfunden wurde, habe ich hier schon mal thematisiert. Ich kann das jedenfalls voll unterschreiben, in Abteilen fühle ich mich (sofern alleinreisend) höchstens wohl, wenn maximal eine weitere fremde Person drinsitzt.

Was das Liegenlassen und Aufpassen angeht: Ich lasse, wenn ich alleine Zug fahre, seit Jahr und Tag konsequent meinen Kram liegen, wenn ich mal irgendwo hin muss, und es ist noch nie etwas weggekommen. Ich passe allerdings immer auf, dass der Zug möglichst nicht hält, während ich nicht bei meinen Sachen bin.

Anonym hat gesagt…

@H. Bonfigt

Als Banhnfahrer über die Grünen zu schimpfen ist schon ein geiler Antagonismus.