Donnerstag, 31. Mai 2007

12: Was die da unten anders machen

Das gelobte Land der Eisenbahn ist, wenn man dem Klischee folgt, die Schweiz, und die Statistik tut nichts dies zu wiederlegen. Nirgends auf der Welt fährt man so viel Bahn pro Kopf und Jahr wie dort, die Deutschen schaffen sowohl von der Anzahl auch von der Gesamtstrecke der Fahrten nur etwa die Hälfte. Ganz ohne Grund kann das nicht so sein.
Zuallererst und wider übliche Vorstellungen sei gesagt, dass es an der Organisationsform der Eisenbahnen nicht liegen kann. Die dominierenden Schweizer Bundesbahnen SBB sind eine privatwirtschaftlich arbeitende Aktiengesellschaft im Besitz des Bundes, die erhebliche gewinnorientierte Aktivitäten im Ausland verfolgt, ganz wie die Deutsche Bahn AG auch. Man muss schon anderswo suchen.
Da ist zunächst einmal die Tatsache, dass das Schweizer Bahnnetz nie Kriegszerstörungen, Reparationsforderungen oder Ähnlichem ausgesetzt war und gleichfalls aus kriegswirtschaftlichen Gründen (die Schweiz verfügt nun einmal über eine Menge Gebirgsbäche, allerdings nur über wenige fossile Brennstoffe) das gesamte Netz seit Jahrzehnten bis in die letzten Nebenstrecken hinein elektrisch betrieben wird, was den Betrieb auf ganzer Linie viel günstiger macht, aber aus den Erträgen allein nie zu finanzieren gewesen wäre. Die Modernisierung wurde zudem zu Zeiten, da die Deutsche Bundesbahn ganz offen und mit dem Segen der Politik lieber stilllegte statt zu sanieren, auch in der Fläche vorangetrieben, was zum Beispiel die Zentralisierung der Stellwerkstechnik anging. Das hat damit zu tun, dass stets der Konsens bestand, keinerlei Strecken stillzulegen, und es für ein Eisenbahnunternehmen, wenn es klar ist, dass es keine Möglichkeit hat, eine Strecke loszuwerden, die plausibelste Strategie ist, diese zu rationalisieren und zu attraktivieren. Dahinter steckt nicht die eisenbahnromantische Magie tufftuffender Nebenbahnen und auch kein antikapitalistischer Impetus. Der Abbau besetzter Betriebsstellen und das Wegreißen nicht benötigter Gleise und Weichen findet und fand in der Schweiz genauso statt wie im DB-Land, und auch ein Schweizer Provinzbahnhof bietet im Endzustand gerne nicht viel mehr Service als einen Fahrscheinautomaten mit Minimalangebot.

Bei alledem ist die Schweiz einfach nicht sehr groß (etwas kleiner als Niedersachsen) und der Verkehr auf etwas mehr als 3000 Streckenkilometern ist gut zu organisieren. Die Bevölkerung ballt sich im mit 380 Einwohnern pro Quadratkilometer ähnlich dicht wie das Saarland besiedelten Mittelland, wo ein dimensionsmäßig mit den nordrhein-westfälischen S-Bahnen vergleichbares System von engen Taktverkehren große Fahrgastzahlen bewegt. Der Verkehr ist dafür in die letzten Ecken des Landes engtaktig ausgebaut und mit den Bussen verzahnt, was in Deutschland nur in Einzelregionen der Fall ist. Die deutsche Flächenbesiedelung liegt allerdings auch wirklich in der Fläche und nicht in Tälern zusammengedrängt.

Das alles soll nicht heißen, dass man von der Schweiz nichts lernen könne. Der integrierte Taktfahrplan mit 30-Minuten-Basistakt lässt verschmerzen, dass grundsätzlich nicht auf Anschlusszüge gewartet wird, was wiederum für Pünktlichkeit sorgt. Der landesweit gültige Einheitstarif ist übersichtlich und motiviert durch die recht hohen Fahrpreise zum Kauf der verhältnismäßig billigen Dauer- und Netzkarten. (Überkapazitäten werden genau wie bei der DB als stark rabattierte Sonderangebote online verkauft.) Die in Deutschland erst seit einigen Jahren vorangetriebene Integration von Verbund- und Fernverkehr ist vorbildlich gelöst. Die Bahnhofsentwicklung findet rein subjektiv mit weniger Streiterei und Kräftemessen zwischen Bahn und Gebietskörperschaften statt als in Deutschland. Und vor allem natürlich pumpt der Staat stetig und vorhersehbar Geld in die Bahn, während die Eisenbahnfinanzierung in der Bundesrepublik spätestens seit der Deregulierung des Straßengüterverkehrs, also seit über 40 Jahren, mehr oder minder unberechenbar herumeiert.

Bild: Toni_V bei Flickr (Details und Lizenz)

Dienstag, 22. Mai 2007

11: Punkte, Stellen und andere Orte

Prellblog 10 hat die Aufmerksamkeit des Blogs "Leberecht 2.0" der Nassauischen Neuen Presse gefunden, wo Volker Thies mich als "Eisenbahnfreak" bezeichnet. (Wenn das so wäre: Wo ist dann mein Stoffbeutel? Wo ist meine Digitalspiegelreflex? Wo ist meine Modellbahn? Und vor allem: Warum habe ich dann kein Auto?) Jenseits dessen aber führt er mich zur Unterstützung seiner Argumentation gegen den ICE-Bahnhof Limburg Süd an. Ich möchte darauf gar nicht weiter eingehen, sondern nur die folgende Stelle als Aufhänger für den Artikel dieser Woche nutzen:

Der eine oder andere mag bereits bemerkt haben, dass ich nicht unbedingt zu denen zähle, die den Schnellzug-Haltepunkt, oh pardon, “ICE-Bahnhof Limburg (Süd)” natürlich, für eine sinnvolle Einrichtung halten.
Volkers Ausdrucksweise entspricht einer Usance, die mir nun schon öfter in der Presse begegnet ist. Dort ist "Haltepunkt" eine Art despektierliche Sammelbezeichnung für Verkehrsstationen ohne Empfangsgebäude, für Fernzughalte ohne Großstadtcharakter und für alles andere, was man für Defizienzmodi eines Bahnhofs zu halten scheint, geworden. Das beißt sich leider etwas mit dem offiziellen Sprachgebrauch bei der Eisenbahn in Deutschland. (In Österreich und die Schweiz ist alles etwas anders und sei außen vor gelassen.)
Der Unterschied zwischen Bahnhof und Haltepunkt ist nämlich ganz klar definiert. In einem Bahnhof können Züge halten, beginnen, enden, wenden, sich kreuzen und überholen. Dazu braucht man mindestens eine Weiche; die Minimalkonfiguration eines ganz normalen Durchgangsbahnhofs hat davon zwei und schließt damit ein Überholgleis an das durchgehende Hauptgleis an. Limburg Süd und Montabaur haben jeweils sogar zwei durchgehende Hauptgleise und zwei Überholgleise und einiges an Weichen und sind damit ganz eindeutig Bahnhöfe. Das ginge auch gar nicht anders, weil mit 300 km/h befahrene durchgehende Hauptgleise nicht an Bahnsteigkanten vorbeiführen dürfen. Das ist nur bis 200 km/h erlaubt, in Ausnahmefällen mit 230 km/h, und aufwändige Sicherungsmaßnahmen sind dafür von Nöten.
Ein Haltepunkt ist jedoch einfach ein Punkt der freien Strecke, wo Züge beginnen, enden und halten können. Keine Weichen, keine Signale, nichts, höchstens ein Vorsignalwiederholer, falls der Haltepunkt im Bremsweg vor einem Hauptsignal liegen sollte und es daher sinnvoll ist, das vor lauter Halten eventuell abgelenkte Lokpersonal daran zu erinnern, ob es am nächsten Signal überhaupt durchfahren darf.
Ob ein mehr oder minder hübsches, mehr oder minder frequentiertes Bahnhofsgebäude daneben steht, entscheidet in keiner Weise darüber, ob es sich um einen Bahnhof oder einen Haltepunkt handelt. Der Dammtorbahnhof in Hamburg ist ein Haltepunkt, und viele unbesetzte und architektonisch unauffällige Verkehrsstationen auf dem Land sind Bahnhöfe.

Was alle miteinander sind, sind Betriebsstellen. Und das sind definitionsgemäß alle Stellen, die keine freie Strecke sind und wo irgendwie der Verkehr geregelt wird.
Zu Zeiten, da Züge noch von Schlackebrocken spuckenden Wärmekraftmaschinen märchenhaft schlechten Wirkungsgrades gezogen wurden, hieß dies stets ein Häuschen mit mindestens einem
Bahnbediensteten, typischerweise inklusive Dienstwohnung, Kleingarten und Eisenbahnerziege. Heute heißt es ein wesentlich kleineres Häuschen, meistens vorgefertigt und in einem Stück per Autokran aufgestellt, in dem Elektronik und eine Menge Kabel stecken. Die Vielfalt der Betriebsstellen ist ganz erklecklich, gibt es doch neben Bahnhöfen und Haltepunkten auch noch Blockstellen, Deckungsstellen, Abzweigstellen und Anschlussstellen. Die letzteren beiden lassen ein anderes Gleis in eine Strecke einmünden und enthalten daher logischerweise auch mindestens eine Weiche. Halten dort auch Züge, ist also ein Haltepunkt mit einer Abzweigstelle oder Anschlussstelle verbunden, spricht man von einer Haltestelle.
Was eine Weiche hat, ist somit nie ein Haltepunkt.

Bild: Calum Davidson ("ccgd") bei Flickr (Details und Lizenz)

Donnerstag, 17. Mai 2007

10: Punkt zu Punkt

Ein Zughalt kostet neben Energie und Stationsgebühren vor allem Zeit. Man muss den Zug verlangsamen, die Fahrgäste müssen ein- und aussteigen, und danach muss er beschleunigen. Führe er durch, könnte er um die dafür benötigten drei bis zehn Minuten früher am Endbahnhof sein - eventuell die Zeitersparnis, die genügend Leute dazu bewegt, dorthin zu fahren, dass der Fahrgastverlust durch den ausgefallenen Halt mehr als kompensiert wird. Bei der Planung ist das häufig schwer abzuschätzen, es sei denn, der Zug erwischt durch die kürzere Fahrzeit bessere Anschlüsse.

Es gibt nun Halte, denen man gerne den Vorwurf macht, netto Fahrgäste zu kosten, indem sie unnötig die Reisegeschwindigkeit von Zügen drückten oder gar Umwege bei Streckentrasssierungen erzwängen. Der Klassiker ist Göttingen, wobei einige meinen, dass schon Kassel-Wilhelmshöhe eine unnötige Konzession gewesen sei. Neuer und bekannter sind die beiden Regionalbahnhöfe an der Neubaustrecke Köln-Rhein/Main, nämlich Montabaur und Limburg Süd. An derselben Strecke gibt es noch zwei Flughafenbahnhöfe und den Halt in Siegburg/Bonn.
Die Strecke hat zudem noch einen Abzweig nach Wiesbaden und eine Verbindungskurve zur alten Frankfurter Flughafenbahn, was demonstriert, dass sich die deutsche Schnellstreckenplanung bemüht, durch Ein- und Anbindungen aller Art, auch wenn Bahnhöfe verlegt werden müssen, wie in Montabaur, oder neu gebaut, wie in Limburg, Flächeneffekte zu erzeugen, statt nur dem Punkt-zu-Punkt-Verkehr zu dienen. Das kann richtig teuer werden: Der Köln-Bonner Flughafen ist in die Strecke eingeschleift, das heißt, er liegt nicht am Hauptstrang selber, sondern parallel als "Bypass", und kann daher von Zügen durchfahren oder umfahren werden. Das hat mehr als eine halbe Milliarde Euro gekostet. Darmstadt und Coburg werden in Zukunft ähnliche Einschleifungen in neue Strecken bekommen, Mannheim eventuell auch.

Man kann nur spekulieren, wie Kosten und volkswirtschaftlicher Nutzen aussähen, hätte man seit 1973 auf Kurven und Schleifen verzichtet und sich darauf konzentriert, Metropolen im Punkt-zu-Punkt-Verkehr zu verbinden, wie das beispielsweise bislang im auf Paris ausgerichteten französischen Schnellstreckennetz gemacht wurde. Auch dort wurden zwar Regionalbahnhöfe neu gebaut, um die Fläche zu versorgen, diese sind allerdings nur per Straße erreichbar (wie übrigens auch Kinding und Allersberg an der neuen Strecke München-Nürnberg.)
Der einzige Punkt-zu-Punkt-Verkehr derzeit besteht aus den ICE-Sprintern, und da wurde das Netz bisher kaum ausgeweitet, trotz einiger Versuche. Es gibt einfach zu viele Städte, und eine praktische sternförmige Ausrichtung wie um Paris haben nur die Strecken, die nach Berlin führen.
Trotzdem gibt es unter den regulären ICE selber Abstufungen, was die Haltzahlen angeht. Auf der Strecke Frankfurt-Köln hält nicht jeder Zug am Köln-Bonner Flughafen, die beiden Regionalbahnhöfe werden abwechselnd angefahren und auch nicht von allen Zügen; zwischen München und Nürnberg gibt es eigene Nahverkehrszüge (die allerdings 200 km/h erreichen). Manche Züge fahren also ein bisschen mehr Punkt-zu-Punkt, andere ein bisschen weniger.
Man nennt so etwas vornehm "Langsam-Schnell-Konzept", und die Idee gibt es, seit der erste Eilzug den ersten Nahverkehrszug überholte. Im Nahverkehr ist es oft Ziel von Ausbaumaßnahmen, ein Langsam-Schnell-Konzept aus RE und RB einführen zu können. Der Fernverkehr wird über kurz oder lang, vor allem, wenn weiterhin neue Regionalbahnhöfe an Hochgeschwindigkeitsstrecken entstehen und neue Schleifeneinbindungen gebaut werden, nicht daran vorbeikommen, ähnlich zu differenzieren. Wie das genau passiert, ist letztlich nur Detailfrage.
Und so drängt sich die Erkenntnis auf, dass flotte Punkt-zu-Punkt-Verbindungen ohne viele Halte und ein enger Fahrplan sich nicht widersprechen sondern eher bedingen. Nur wenn viele Züge fahren, kann man sich leisten, nicht alle überall halten zu lassen - zumindest in einem eher großen Land mit trotzdem flächig verteilter Bahnkundschaft. Das deutsche Eisenbahnnetz muss gewissermaßen gleichzeitig Schweiz und Frankreich spielen.

Dieser Artikel ist der dritte Teil einer unregelmäßigen Serie zu den Rahmenbedingungen des Hochgeschwindigkeitsverkehrs im gleichnamigen Ressort.

Bild: Horatius bei Wikimedia Commons (Details und Lizenz)

Freitag, 11. Mai 2007

Verspätungsgrund II

Dass das Prellblog nun schon die zweite Woche in Folge verspätet erscheint, liegt diesmal zwar nicht an der Eisenbahn, aber wiederum an einer Reise. Ich habe gestern nach mehr als 24 größtenteils wachen Stunden auf Flughäfen und in Flugzeugen erst einmal einen ganzen Tag Schlaf nachholen müssen, wofür ich um Verständnis bitte.
Dass der heutige Artikel so kurz ist, liegt allerdings nicht am Jet-Lag, sondern daran, dass es traurigerweise wenig zum Thema zu schreiben gibt.

9: Jenseits des Prellblogs

Schon vor einiger Zeit bin ich gefragt worden, welche weiterführende Literatur zum Thema Eisenbahn ich empfehlen könne. Ich möchte dazu einfach kurz erläutern, woher meine eigenen Informationen kommen. Ausnahmsweise gibt es in diesem Artikel daher auch einige Links.
Die mit Abstand wichtigsten Informationsquellen sind eindeutig Eurailpress und die Pressemitteilungen der DB. Die Eurailpress-Abteilung "News" ist das Nachrichtenportal eines der wichtigsten Fachverlage für Eisenbahnliteratur, und damit sind hier wissenschaftliche Publikationen von und für Ingenieure gemeint, keine Bildbände über stillgelegte Kleinbahnen. Entsprechend finden sich hier alle wichtigen Pressemitteilungen aus den Bahnen, der Politik, der Fahrzeug- und Infrastrukturindustrie. Dagegen beschränken sich die Nachrichten der DB naturgemäß auf das eigene Geschäft, aber da dieses nach wie vor fast die gesamte deutsche Bahninfrastruktur umfasst, sind die sehr kleinteiligen Konzernmitteilungen eine sinnvolle Lektüre. Ob man sich nebenbei auch den wöchentlichen Videopodcast von Bahn TV anschaut, ist Geschmackssache. Ich lese der Vollständigkeit halber auch noch Google News, Suchbegriff "bahn ODER eisenbahn", aber 90% dessen, was dort auftaucht, steht immer schon bei Eurailpress und DB. Die sonstigen deutschsprachigen Nachrichtenseiten zum Thema sind überwiegend nicht der Rede Wert.
Der Markt für Printmedien ist voll bunter Magazine mit der üblichen Soße aus Nostalgie und Modellbau, aber mit wenig aktueller Information. Ausnahmen sind die beiden Fachzeitschriften "Regionalverkehr" und "stadtverkehr", die kompetent und ohne Geschwafel über Nahverkehr berichten. Sie sind sich so ähnlich (teilweise exakt gleiche Artikelthemen), dass ein Vergleich schwer fällt. Es scheint leider keine vergleichbare, im Zeitschriftenhandel erhältliche Publikation zu geben, die sich auch mit Fernverkehrsthemen beschäftigt. Man findet häufig gute Artikel zum Thema in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und Sonntagszeitung, aber eine regelmäßige Rubrik bilden diese dort auch nicht.
Was Bücher angeht, habe ich einen einzigen, dafür umso gewichtigeren Tipp: Joachim Fiedlers backsteindickes, von Dutzenden Fachleuten redigiertes Taschenbuch "Bahnwesen", 2005 in der fünften Auflage bei Werner in Neuwied erschienen, kann als Nachschlagewerk zu nahezu allen Gebieten des Fachs dienen, von Fahrdynamik über Oberbau bis zur Haltestellen- und Fahrplangestaltung. Letzlich ist es für die 40,- €, die es kostet, ein Schnäppchen.

Und das war es dann auch schon - konzentrierte, aktuelle Information zum Thema Eisenbahn macht sich rar. Das ist einer der Gründe, warum es das Prellblog gibt. Ich freue mich aber jederzeit über weitere Hinweise, vor allem auf brauchbare Blogs, denn in meiner Linkspalte ist noch viel Platz.

Bild: Till Krech (alias extranoise) bei Flickr (Lizenz und Details)

Samstag, 5. Mai 2007

Verspaetungsgrund

Prellblog Nr. 8 erscheint mit Verspaetung, allerdings aus einem stilechten und daher hoffentlich verzeihenswerten Grund: Ich habe den gesamten Donnerstag wegen eines Personenschadens bei Amsterdam, NY, in Amtrak-Zuegen und auf dem Bahnhof von Buffalo-Depew, NY, verbracht und komme jetzt erst, da es in Europa schon Samstag ist, dazu, den Eintrag freizuschalten.
Das naechste Prellblog wird hoffentlich wieder puenktlich.

8: Was zieht

»Zug« bedeutet, dass etwas gezogen wird. Bei einem Regionalexpress vielleicht nur sechs Wagen, bei einem Güterzug gerne mehr als dreißig, im Ausland zuweilen über hundert. Aber was zieht da eigentlich?
Von den angetriebenen Radsätzen (zur Terminologie siehe Prellblog 14) kommen die Zugkräfte über Drehzapfen oder Zug- und Druckstangen auf den Rahmen der Lokomotive, die wie jedes Fahrzeug darauf genormt ist, die Maximalzugkräfte übertragen zu können. An jedem Ende ist ein gefederter Zughaken und eine Zugöse montiert, und zum Kuppeln wird eine Öse über einen Haken gehängt.
Züge müssen aber auch geschoben werden können. Deswegen kann jedes Fahrzeug auch Druckkräfte vertragen und hat gefederte Puffer, die immer eng anliegen müssen, da sonst beim Anfahren und Bremsen die Wagen gegeneinander prallten, was für alle Beteiligten unangenehm wäre. Daher hängen die Zugösen an Schraubenspindeln, die beim Kuppeln gespannt werden. Haken und Puffer ergeben zusammen eine elastische, straffe Verbindung. Damit es, wenn die Puffer sich gegeneinander verschieben, nicht quietscht, sind sie eingefettet, und bei Eisenbahnausstellungen werden sie abgedeckt, damit sich Schaulustige keine Flecken holen.
Das System hat den Vorteil, dass es sicher und unkompliziert ist. Kuppeln ist allerdings zeitraubendes Geschraube, und man kann die Zugösen nur so stark ausführen, dass sie der Durchschnittsrangierer noch anheben kann. Das begrenzt die Zuglast und das Maximalgewicht eines Zuges. Außerdem muss man vor dem Kuppeln so rangieren, dass die Puffer anliegen, und das braucht Fingerspitzengefühl.
Nordamerika macht wie immer alles anders: Es gab dort nie Außenpuffer, sondern einen Mittelpuffer, anfangs mit einem Schlitz und einem Loch, so dass man Wagen mit einer Öse und Splinten kuppeln konnte. Für Rangierer war das derart gefährlich, dass 1888 gesetzlich eine Kupplungsklaue eingeführt wurde, die beim Auffahren einrastet. Da sie kein Rangierer heben muss, kann man riesige Zugklauen verwenden, fünf Kilometer lange Kohlenzüge fahren und den Autos zuwinken, die eine halbe Stunde lang vor den Bahnübergängen warten. Gefühl beim Rangieren braucht man auch weniger.
Entsprechend hat sich auch der Rest der Welt nach und nach auf solche Automatikkupplungen umgestellt, bis auf Europa, wo es einfach zu viele Bahnverwaltungen und zuwenig Interesse an langen Zügen gab. Technisch waren die Umstellungspläne zwar bereits ausgearbeitet, aber wirklich gemacht hat man es nie. Geschadet hätte es bestimmt nicht.

Es gibt inzwischen in jeder Lebenslage zuverlässige vollautomatische Kupplungen, die auch gleich die Bremsluftleitungen, die Stromversorgung und die Datenkabel mitverbinden, und die man übergangsweise zusammen mit dem alten System montieren kann. Man kann allerdings nicht damit rechnen, dass in Europa bald die Haken und Ösen abgeschafft werden - es kostet schon über eine halbe Milliarde Euro, bei den Schweizer Bundesbahnen alle Bremsbeläge auszutauschen; man kann abschätzen, wie teuer es wäre, an einer Million europäischer Güterwagen elektromechanische Kupplungen zu montieren.

Bild: Arnold Reinhold bei Wikipedia Commons (vollständiges Foto, Details und Lizenz)