Donnerstag, 12. April 2007

5: Rein, raus, runter, rauf

Wer weiß, welchen Akt es bedeuten kann, in alte Nahverkehrswagen zu klettern, kann sich ausmalen, wie es zuging, bevor der Bahnsteig erfunden wurde. Und obwohl das über hundert Jahre zurückliegt, hat allein die DB im vergangenen Monat vierzehn neue Bahnsteigkanten fertiggestellt.
Nötig ist das, weil die neuen höher sind als die meisten alten Kanten. Internationale Standardhöhe ist heute 76 cm über Schienenoberkante. Im Regionalverkehr sind 55 cm üblich. Ältere S-Bahnen haben 96 cm. Die Unterschiede führen dazu, dass viele Bahnhöfe Bahnsteigkanten unterschiedlicher Höhe haben. Warum?
Es soll zwischen Wagenboden und Bahnsteig möglichst keine Stufe geben. Das hat viele Vorteile, nicht nur für Rollstühle, Kinderwagen, Rollenkoffer etc.; jedes Ein- und Aussteigen beschleunigt sich erheblich. Sind alle Halte stufenfrei, kann sich die Fahrzeit ceteris paribus um zehn Prozent verkürzen. (Nebenbei verwandeln sich Gruppen von Fahrradtouristen von einer Landplage in beliebte Fahrgäste.)
Früher musste man dafür die Bahnsteige auf die Höhe des Wagenbodens konventioneller Fahrzeuge hochbauen: Der alte S-Bahn-Standard. Leider kann man an solchen Bahnsteigen nicht mit Güterzügen vorbeifahren - entweder die Ladung oder die Kantensteine würden das nicht überstehen. Also die Begrenzung auf 76 cm. Fernverkehrszüge haben weiter den hohen Boden (unter anderem wegen Aussicht und Fahrkomfort), und so muss man auch in die neuesten ICE hinaufsteigen.
Es gibt mittlerweile aber Fahrzeuge, bei denen die Eingangsschwelle tiefer liegt, also auf genau 76 cm oder gar 55 cm. Dazu wird der Wagenboden teilweise oder komplett tiefer (»niederflurig«) gebaut. Beides ist technisch nicht ohne.
Will man noch tiefer, muss man damit zurechtkommen, dass ein Schienenfahrzeug Achswellen hat (zur Terminologie siehe Prellblog 14). Die sind nun einmal auf halber Höhe der Räder, und unter ihnen durchbauen kann man den Fußboden schlecht. Es gibt Kunstgriffe: Zum Beispiel sogenannte Portalachsen, wo die Räder über Getriebe mit der Achswelle verbunden sind. Diese kann man dadurch tiefer legen, so dass man bis auf straßenbahntaugliche Einstiegshöhen um die 30 cm herunterkommt. Die Antriebstechnik verlegt man weitgehend aufs Dach.
Abgefahren wird es, wenn man die Achswelle ganz weglässt und Einzelräder benutzt. Treibt man die dann über Motoren an, die nicht unter dem Fußboden, sondern senkrecht in der Wand eingebaut sind, kann man so weit herunterkommen wie bei den »Ultra-Low-Floor«-Zügen der Wiener Straßenbahn, wo der Einstieg nur noch 18 cm hoch liegt (Weltrekord). Leider muss man erheblichen elektronischen Aufwand betreiben, damit die Radpaare sich so benehmen, als gebe es eine Achse, weil ansonsten die Schienen und Räder ruiniert werden.

Auch wenn eine handelsübliche Bordsteinkante dann reicht: Einen Bahnsteig braucht man immer.

Bild: Eigene Aufnahme

4 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Zwar nicht zu diesem Artikel, aber hoffentlich zum Blog passend folgender Artikel: Andrew Evans: Rail safety and rail privatization. Significance, March 2007.

mawa hat gesagt…

Vielen Dank. Das ist eine der besten Quellen zum Thema, die ich je gesehen habe. An das Märchen von der gesteigerten Unfallhäufigkeit hatte ich bislang sogar selbst geglaubt.

Nebenbei hatte UK seit der Privatisierung die höchsten Wachstumsraten Europas, was den Eisenbahnverkehr angeht. Vor allem im Güterverkehr - und das ist doppelt beeindruckend, weil der Einzelwagenverkehr schon lange abgeschafft wurde und es auf einer Insel keinen Transitverkehr gibt.

Anonym hat gesagt…

Ich möchte aber schwören, daß die Einstiege der neueren Wagen der MVG-Straßenbahnen auch höchstens so zzwanzig Zentimeter hoch liegen... Muß mal nachmessen gehen. :-)

Gruß Erik

mawa hat gesagt…

Die MVG fährt Adtranz GT6M mit einer Einstiegshöhe von 30,0 cm.