Der Kern des gesamten Sicherheitskonzepts der Eisenbahn, so wie sie heute fährt, sind definierte Bremswege. Ein Zug muss, wenn ein Signal überraschend »Halt erwarten« zeigt, bis zum zugehörigen »Halt«-Signal zum Stehen kommen können (Prellblog 58). Diese Abstände bestimmen letztlich auch in erheblichem Maße die Geschwindigkeiten, die gefahren werden dürfen. Standard in Deutschland ist dabei, dass ein Zug aus voller Fahrt mit 160 km/h binnen 1000 Metern anhalten können muss. Das klingt zunächst nicht unbedingt beeindruckend; beim Auto rechnet man bei derselben Geschwindigkeit per Faustformel mit einem Bremsweg von gut 250 Metern. Allerdings wiegt ein Auto normalerweise so um die anderthalb Tonnen; ein realistischer Regionalzug mit sechs Doppelstockwagen und einer modernen Drehstromlokomotive über den Daumen gepeilt etwa 390 Tonnen.
Güterzüge sind natürlich gerne noch viel schwerer, fahren allerdings auch höchstens mit 100 bis 120 km/h umher.
Wie verzögert man solche Massen sicher aus solchen Geschwindigkeiten, und das noch unter Berücksichtigung des Problems, dass ein Zug eine mehr oder minder temporäre Zusammenstellung einer variierenden Zahl unterschiedlicher Fahrzeuge darstellt?
Man macht es mit Druckluft. Dieses Medium hat sich im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts nahezu universell durchgesetzt. Auf der Lokomotive sitzen Kompressoren (eisenbahndeutsch Luftpresser) und Lufttrockner, durch jedes Eisenbahnfahrzeug gehen ein oder zwei Luftleitungen durch, und über Schläuche und Schlauchkupplungen entstehen so - wiederum ein oder zwei - Druckluftstränge von vorne bis hinten.
An den Radsatzwellen
(Prellblog 14) sitzen nun Bremsscheiben, die jede Autobremsscheibe wie Spielzeug aussehen lassen. (Das Bild zeigt eine außenliegende Scheibenbremse, was extrem selten ist, normalerweise sind die zwei bis drei Scheiben zwischen den Rädern montiert. Es kommen manchmal auch eigene Bremswellen vor, die durch Getriebe mit den Achswellen verbunden sind. Bei älteren Wagen und vor allem bei Güterwagen findet man auch noch Klotzbremsen, die direkt auf den Radreifen wirken.) Die Bremszangen sind über Gestänge mit Druckluftzylindern verbunden, zu denen jeweils eigene Luftbehälter gehören. Die Verbindung zwischen Bremszylinder, Luftbehälter und der durchgehenden Bremsleitung stellt ein Bremsventil her, ein kompliziertes und in der Wartung anspruchsvolles Spezialbauteil, das meistens, aber nicht immer, von der Firma Knorr-Bremse kommt.
Bremsen funktioniert jetzt so: Vorne auf der Lokomotive wird ein Ventil (das Führerbremsventil) aufgemacht, der Druck in der Bremsleitung fällt um 40 bis 150 kPa ab, die Bremsventile öffnen proportional zu diesem Druckabfall die Verbindung vom Luftbehälter zum Bremszylinder, die Bremsbacken legen sich an die Bremsscheiben. Wird das Führerbremsventil wieder geschlossen, füllt sich die Bremsleitung wieder auf den normalen Druck von 500 kPa auf, wobei die einzelnen Luftbehälter jeweils ebenfalls wieder aufgefüllt werden. So ist es möglich, über die Regelung des Luftdrucks in der Bremsleitung einen mehrere hundert Meter langen Zug feinfühlig und ruckfrei abzubremsen.
Wenn dagegen schnellstes Abbremsen ohne große Finesse gefragt ist, wird die Druckluft einfach ganz abgelassen. Das kann zum Beispiel durch eine Notbremse passieren. Praktischerweise wird eine solche Schnellbremsung auch ausgelöst, wenn die Kupplung zwischen zwei Wagen zerreißt, und bringt dann beide Zugteile zum Stehen.
Es gibt natürlich noch weit mehr Feinheiten, und darum geht es nächste Woche mit diesem Thema weiter. Inspiriert wurde dieser Artikel übrigens von den derzeitigen Schwierigkeiten der S-Bahn Berlin mit ihren Bremszylindern - mögen sie schnell behoben sein.
14 Kommentare:
Und wenn die Luftbehälter ganz leer sind, müssen zum Bremsen die Fahrgäste die Füße rausstrecken. :-)
@Anonym
du scheinst das System der Druckluftbremse nicht begriffen zu haben
eine Betriebsbremsung wird mit 0,5 bis 0,8 bar Druckabsenkung eingeleitet. Bei 0,4 kann es passieren, das dies nicht zum Ansteuern der Ventile reicht.
Früher konnten die "Luftbehälter tatsächlich durch falsches Bremsen ganz entleert werden. Auch heute kann man die Behälter noch so weit entleeren das der Zug viel schlechter bremst als berechnet und im Gefälle nicht mehr zum stehen gebracht werden kann, wie folgender Unfallbericht beweisst: http://www.uus.admin.ch//pdf/08090201_SB.pdf
Bei der Bremswegrechnung komme ich auf völlig andere Werte, 120m für Auto, für LKW theoretisch 150m und für den Zug 1000m-1300m, ohne Reaktionszeit.
Zug: Verzögerung max. 0,8-1 m/s im Quadrat (Nur mit Schnellbremsung erreichbar). Auto: 8-9 m/s im Quadrat.
Die Führerschein-Faustformel für den Bremsweg aus 160 km/h ergibt 16*16 = 256 Meter.
Diese Faustformel ist stark vereinfacht und etwas ideologisch gefärbt. Auch in Autozeitschriften kann man lesen das z.B. der gemessene Bremsweg von Auto XY aus 100 Km/h, 35 Meter lang ist.
Ich weiß ja nicht, wie man eine Formel ideologisch färbt ;) Wie du rechnest, ist mir aber auch nicht ganz klar. Dass 1000 m für eine Schnellbremsung aus 160 km/h ausreichen, ist Grundlage des gesamten deutschen Schnellzugverkehrs und ergibt sich im Jochim/Lademann auch aus der dort verwendeten Bremswegformel (s = v**2/2a), obwohl die auch -1,0 m/s**2 ansetzen.
Die Anfangsgeschwindigkeit in m/s im Quadrat durch zweimal die konstante Bremsverzögerung in m/s²
So lautet die mathematische Formel für den Bremsweg.
Meine eigenen Versuche ergaben mit einem modernen S-Bahn Zug, mit Schnellbremsung (inkl. Mg Bremsen), einen Bremsweg von 450m aus 100Km/h. Bei besten Verhältnissen. Das ist eine Verzögerung von 0.75 m/s im Quadrat.
Ein ICE kommt bestimmt auf 1 m/s im Quadrat aber eben nicht jeder Zug.
Mit ideologisch meine ich die Tendenz das man dem Autofahrer mit langen Bremsweg Angst vor zu schnellem Fahren machen will. Die Autofahrer-Faustformel lässt sich durch die Vereinfachung auch gut merken.
Ein ICE schafft sogar an die -1,5 m/s**2, Magnetschienenbremse sei Dank. ICs und Doppelstockzüge ("RE160") sollten ebenfalls etwas über die 1,0 kommen. Auch andere moderne Triebzüge (z.B. Baureihe 612) haben Bremssysteme mit teilweise weit über 200 Bremshundertsteln.
Wie funktioniert das, dass heutzutage die Luftbehälter nicht mehr ganz leergebremst werden können? Hat da jemand vielleicht einen Link für mich?
Das Zauberwort ist "mehrlösige" bzw. "unerschöpfbare" Bremse. Vgl. z.B. diesen Buchauszug.
Kleine Korrektur:
'mehrlösig' bedeutet lediglich, daß man die Bremskraft *zurücknehmen* kann, ohne die Bremsen komplett zu lösen.
Das spart natürlich jede Menge Hilfsluft,
aber 'unerschöpflich' ist auch diese Bremse nicht.
Der Umgang mit einer einlösigen Bremse ist eine spannende Erfahrung und Nervenkitzel zugleich.
Schöner Beitrag, der vereinfacht, ohne zu simplifizieren. Vielleicht wäre eine historische Würdigung (Westinghouse) ebenso interessant gewesen wie die Unterscheidung zwischen HLL und HBL.
Lohnt sich doch immer wieder vorbeizuschauen, das gilt auch für den Nachfolgebeitrag.
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