75: Kleine und große Würfe
Der Eisenbahnpersonenverkehr wächst, und zwar derzeit und besonders in bestimmten Knoten überproportional. Damit muss man umgehen. Schon in Frankfurt am Main kann man gut beobachten, dass die eigentlich gar nicht so schmalen Verkehrsflächen, wenn einige ICE oder Doppelstock-REs voller Länge etwa zeitgleich ankommen beziehungsweise abfahren, gerne bis an die Grenze beansprucht werden. Um das Problem in Frankfurt zu mildern, wäre gar nicht so viel Erfindungsreichtum nötig - man könnte den bereits bestehenden Quertunnel auf halber Bahnsteighöhe aufweiten, mit Aufzügen und Rolltreppen barrierefrei ausbauen und insgesamt etwas attraktiver machen, damit diese zweite Umsteigemöglichkeit besser angenommen wird. Allerdings wäre das sehr aufwändig; wer wissen will, wie sehr, darf sich anschauen, wie der Gießener Bahnhof derzeit aussieht. Gerade gestern konnte ich dort wieder in Augenschein nehmen, dass so etwas mit riesigen Löchern, Schutthaufen und Hilfsbrückenkonstruktionen einhergeht.
In Bern hat man mit der »Welle von Bern« einfach einen neuen Quersteg über ein Ende des Bahnhofs gezogen, so kann man es natürlich auch machen (architektonisch preisgekrönt übrigens). Die Welle hat auch noch den Nebeneffekt, dem Bahnhof zur Westseite hin einen neuen Zugang zu verschaffen.
All das verblasst gegenüber den Maßnahmen zur Aufnahme von Menschenmassen, die der neue faktische Hauptbahnhof von Lüttich, Liège-Guillemins (mit einer Umbenennung darf gerechnet werden) vorsieht. Der Bau von Santiago Calatrava beeindruckt zwar nach außen (Bild) durch die große Geste des in Längsrichtung gewölbten Hallendachs, das organisch in die Bahnsteigdächer ausmündet, und dadurch, dass es keine Fassade im eigentlichen Sinne, sondern nur auf jeder Seite ein großes Vordach gibt.
Innen wird es um so spannender: Eine großzügige Unterführung, mit einem Calatrava-typisch skelettartig gestalteten Gewölbe, führt ebenerdig auf den Bahnhofsvorplatz. Sie ist durch Aufzüge, Rolltreppen und feste Treppen mit den Bahnsteigen verbunden. Über ihr sind die Bahnsteige als Glaspflaster ausgeführt, um Licht durchzulassen.
Am vorderen und hinteren Ende der Bahnsteige überspannen zwei Querstege die Gleise, die wiederum durch Rolltreppen und feste Treppen, auf der einen Seite zusätzlich durch Fahrsteige (geneigte Laufbänder) mit den Bahnsteigen verbunden sind. Zur Hangseite (der Bahnhof lehnt an einem Hügel) sind die Stege und die Unterführung mit einem dreigeschossigen Parkhaus mit eigenem Autobahnanschluss verbunden, das einen zusätzlichen Empfangsbereich hat, dessen begehbares Dach die Fußgängeranbindung zur Hangseite herstellt. Auf der Talseite ist der Bahnsteig 1 zudem direkt von Bahnhofsplatz her über Freitreppen und Rolltreppen zu erreichen.
Schon die Infrastruktur des Bahnhofs atmet so einen Geist von Optimismus und Großzügigkeit, wie er seit den 1990er Jahren wieder allmählich in die Bahnhofsarchitektur einzieht. Dass das Ganze ein Ersatzneubau und kein Umbau ist, unter anderem, um die neuen Bahnsteige ohne Krümmung und lang genug für doppelte TGV-Einheiten zu machen, passt genauso ins Bild wie die auf den neuen Bahnhofseingang bezogene Umgestaltung des gesamten Stadtviertels davor, die dieser Tage beginnen soll.
Fertig wird Liège-Guillemins leider nicht mehr in diesem Jahr, sondern erst im Juni 2009. Ich hoffe, dann bald einmal vorbeischauen zu können.
Bild: Jean-Etienne Poirrier (»jepoirrier«) bei Flickr (Details und Lizenz)
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen