Dienstag, 28. Juni 2011

157: Prüfungssituationen

Auch wenn ich ehrlich gesagt keine Lust mehr und deswegen wieder einige Wochen Haderzeit gebraucht habe: es lässt sich nicht vermeiden, nochmals über Stuttgart 21 (vgl. Prellblog 19, Prellblog 90, Prellblog 130, Prellblog 135, Prellblog 136, Prellblog 137, Prellblog 141, Prellblog 144, Prellblog 154) zu schreiben.
Das hat mehrere Gründe. Zunächst hatte die DB ein Preisschild mit der Zahl von 400 Millionen Euro an die von der neuen grün-roten Landesregierung verlangte Verlängerung des Baustopps bis zur angekündigten Volksabstimmung im Oktober geklebt. Auch wenn von verschiedenen Seiten angezweifelt wurde, dass diese Zahl realistisch sei: Förmlich beantragt wurde die Verlängerung dann erst gar nicht.
In den Medien war angesichts des nur schwachen Widerstands gegen die Wiederaufnahme der Bauarbeiten bereits von einem Ende der Protestbewegung die Rede. Am Montag letzter Woche kam es dann überraschend zu Ausschreitungen, bei denen Millionenschäden an Baumaschinen und -material angerichtet, ein Polizist zusammengeschlagen wurde und acht weitere Knalltraumata erlitten. Plötzlich war an der Wand wieder das Gespenst, dass Stuttgart 21 auf Grund von Sabotageaktionen unbaubar werden könnte, zu erkennen. Die umfangreiche Grundwasserführung in 17 Kilometer teils - wie vom Bau des Leipziger Citytunnels bekannt - offen aufgeständerter Rohrleitungen ist nicht permanent polizeilich zu schützen, wie der Stuttgarter Polizeipräsident bereits eingeräumt hat.
Vor dieser Kulisse wird also die Frage hoch relevant, wie die Motivation und Aktionsbereitschaft der Protestierenden entwickeln werden. Und dies wiederum wird ganz sicher immens dadurch beeinflusst, wie alle beteiligten Akteure sich darauf beziehen, dass und wie die am 14. Juli angesetzte Vorstellung des Ergebnisses des so genannten "Stresstests" stattfindet.
Die Presse hat vorab vermeldet, dass der Test die geforderte Bestätigung durch ein unabhängiges (und recht kritisches) Institut, dass der geplante Bahnhof 30 Prozent mehr Kapazität in Spitzenlastzeiten erreichen könne als der bestehende, und dies ohne den vertraglich fixierten Kostenrahmen durch große Erweiterungen zu sprengen, höchstwahrscheinlich erbringen werde. Angeblich sollen 40 Millionen Euro Mehrkosten für ein bisschen mehr Signaltechnik und eine zweigleisige Anbindung des Flughafens reichen. Der neue baden-württembergische Verkehrsminister kritisierte, die Unterlagen, qua derer diese Nachricht durchgesickert sei, haben ihm nicht vorgelegen, was wiederum die DB dementiert und zu Rücktritts- und Abwahlforderungen geführt hat. Teile der Protestbewegung haben angekündigt, der Bekanntgabe des Ergebnisses gar nicht erst beiwohnen zu wollen, und haben damit den Konsens zwischen Gegnern und Befürwortern, das Ergebnis als ein neutrales anzuerkennen, durchbrochen. Der Schlichter Heiner Geißler hat bereits damit gedroht, seinerseits der Verkündung fernzubleiben, wenn das Ergebnis bereits im Vorfeld als tendenziös angegriffen werde.
Das Projekt Stuttgart 21 wird also nicht wegen ausufernder Mehrkosten in sich selbst zusammenbrechen, wie bisher von der Gegnerseite erhofft. Die für den Herbst angesetzte Volksabstimmung wird vermutlich wegen des hohen Quorums scheitern, sofern die Verfassung nicht mehr rechtzeitig geändert werden kann, woran allerdings kaum jemand mehr glaubt.
Die oben angerissene Frage nach Umfang und Art weiterer Proteste wird beantwortet werden und darüber entscheiden, welches der beiden derzeit einzig plausiblen Szenarien sich realisiert: Entweder erstirbt der Widerstand (still und leise oder nach einer vorschnellen Eskalation mit abschreckenden Gewaltexzessen) und Stuttgart 21 wird gebaut; oder die Gewalt gegen Personen und Sachen nimmt derartige Ausmaße an, dass sich die Deutsche Bahn zurückziehen muss. Eine Verhinderung des Baus durch friedliche Proteste halte ich nicht mehr für wahrscheinlich.
Elegant wäre natürlich eine Art passiver Widerstand der Landesregierung, beispielsweise in Gestalt einer Erklärung von Innenministerium und Stuttgarter Polizei nach weiterer Eskalation, dass die polizeiliche Sicherung der Baustelle angesichts des Ausmaßes der Protestaktionen nicht mehr garantiert werden könne. Für einen solchen Fall rechne ich allerdings, solange nicht auch eine grün-rote Bundesregierung gewählt wird, mit massiver Entsendung von Bundespolizei. Dass es verschiedene, eventuell jahrelange Prozesse staatsorganisations-, straf- und zivilrechtlicher Art geben wird, halte ich ohnehin für ausgemacht.
Alles in allem sollten wir uns, so meine ich, an den Gedanken gewöhnen, dass Stuttgart 21 realisiert werden wird. Ich persönlich habe nicht viel dagegen.

Bild: "Terrazzo" bei Flickr (Details und Lizenz)

Donnerstag, 9. Juni 2011

156: Näherungslösungen

Der Berliner Hauptbahnhof hat kürzlich seinen fünften Geburtstag gefeiert und man hat sich an ihn gewöhnt, auch wenn das Feuilleton sich an seinen realen oder imaginierten architektonischen und städtebaulichen Schwächen weiterhin abarbeitet. Man hat sich auch daran gewöhnt, dass nahezu alles, was den Bahnhof räumlich und logistisch umgibt, den Charme des Provisorischen atmet. Als er fertiggestellt wurde, gab es nahezu keine angrenzende Bebauung, beide Vorplätze waren nur vorläufig hergerichtet, und weder Nord-Süd-S-Bahn-Linien noch U-Bahn noch Straßenbahn hielten.
All dies ändert sich mittlerweile schrittweise. Um den Bahnhof herum entstehen zögerlich, aber nachdrücklich die ersten Teile der neu zu entwickelnden Stadtviertel, für die bereits teilweise die Erschließungsstraßen herumliegen; dazu gehören unter anderem gleich mehrere Low-Budget-Hotels, über die viel geschimpft wurde, die ich persönlich aber bloß als logischen und unvermeidlichen Teil eines Bahnhofsumfelds empfinde. Der südliche Vorplatz wird mittlerweile weitgehend endgültig ausgebaut - weitgehend endgültig deswegen, weil immer noch nicht klar ist, ob und für wen der dort vorgesehene kubische Solitärbau, der das Zeug zu einem der exponiertesten und auffälligsten Firmenhauptquartiere Deutschlands hat, entstehen wird. Die U-Bahn hält seit August 2009 in der Tiefebene, fährt von dort zwei touristisch sehenswürdig hergerichtete Stationen weit zum Brandenburger Tor und harrt der Fertigstellung ihrer Verlängerung zum Alexanderplatz.
Und seit drei Tagen tut sich auch, was die S-Bahn und die Straßenbahn angeht, etwas. Für einen dreistelligen Millionenbetrag wird eine nördliche S-Bahn-Zuführung geschaffen, die in beide Richtungen in die Ringbahn einbindet. Da hiermit ein weitgehendes Aufreißen des nördlichen Bahnhofsvorplatzes und der diesen querenden Invalidenstraße verbunden ist, wird im selben Aufwasch die genannte Straße gleich mit umgebaut und dabei auch die 2200 Meter lange Straßenbahnverlängerung vom Nordbahnhof zum Hauptbahnhof erstellt. Nach Süden soll die neue S-Bahn-Anbindung in einem zweiten Bauabschnitt zum Potsdamer Platz verlängert werden, und irgendwann in frühestens zirka 20 Jahren soll sie beim Gleisdreieck an die Strecke durch Schöneberg und diese wiederum durch eine wiederherzustellende Verbindungskurve auch im Süden an die Ringbahn angeschlossen werden.
All das ist teuer, kompliziert und dauert. Wie im Prellblog schon des öfteren thematisiert, haben Verkehrsbauten, gerade wenn sie die Eisenbahn betreffen, zunehmend systemintegrierenden Charakter und tendieren daher nicht nur in dem, was tatsächlich irgendwann gebaut wird, sondern vor allem im Konzeptions- und Planungsvorlauf zu ausufernder Komplexität. Die U-Bahn-Verlängerung vom Alexanderplatz zum Hauptbahnhof, deren Hauptteil derzeit in Bau ist, zeigt wiederum, dass sich nicht nur die verschiedenen Verkehrsnetze und Entwicklungsziele miteinander verzahnen, sondern auch Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft: Der Wiederaufbau des Stadtschlosses als Humboldt-Forum muss der Fundamente wegen mit dem Bau der U-Bahn koordiniert sein, dafür sind nun wieder archäologische Rettungsgrabungen notwendig, die Funde freigelegt haben, die das Schlossprojekt bereits beeinflusst haben und auch die Idee, eventuell doch größere Teile der Berliner Altstadt zu rekonstruieren, beflügeln. Grundsätzlich geschehen beim Bau jeder größeren Bahnstrecke in einer Großstadt auch so genannte Bauvorleistungen beziehungsweise werden solche genutzt - vorsorglich angelegte Tunnelabschnitte, freigehaltene Geländestreifen und zum einfachen Abriss vorgesehene Gebäudeteile sprenkeln die Karte.
In einer Zeit, in der man einerseits gar nicht mehr so heimlich die Idee übergreifender, diskursarmer Planung, technokratischer Strategien, des Durchschlagens von Entscheidungsknoten bejubelt (China! China, und immer wieder China!), andererseits aber radikale Eingriffe in staatliche Planung durch Partizipation von unten gefordert werden (Oben bleiben!), lohnt es sich, Phänomene wie die Peripherie des Berliner Hauptbahnhofs in den Blick zu nehmen und sich bewusst zu machen, dass die notwendige Unvollkommenheit allen menschlichen Strebens, dass Zeitaufwand, iterative Entwicklung und Entscheidungsfindung, unbeabsichtigte Nebenfolgen und Eigendynamiken sich nicht ausblenden lassen.

Bild: »Uglynoid« bei Flicker (Details und Lizenz)