Montag, 27. September 2010

139: Messeneuheiten 1/2

Am vergangenen Samstag habe ich weder Kosten noch Mühen gescheut, um die Publikumstage der weltweit größten und wichtigsten Eisenbahnmesse InnoTrans zu besuchen. Die ursprünglich zwei zugesagten Begleiter waren leider beide ausgefallen, einer im Vorfeld und einer kurzfristig durch Verschlafen, aber ich habe mir tapfer, teils bei strömendem Regen, zwischen dreieinhalb Kilometern mit Eisenbahnfahrzeugen aller Couleur zugestelltem Gleis für das Prellblog die Hacken abgelaufen.

Was sind nun also die Trends auf dem großen, bunten Schienenmarkt, so weit ich das als interessierter Laie beurteilen kann?

Es wird eng: Nachdem auf der InnoTrans nun auch Siemens eine dieselelektrische Lokomotive im selben Formfaktor wie ihre elektrischen Streckenloks vorgestellt hat, gibt es nun drei komplette modulare Lokomotivfamilien auf dem Markt: Alstrom Prima, Bombardier Traxx und Siemens Vectron. Alle konkurrieren ziemlich auf Augenhöhe. Es gibt erste Anzeichen einer Entwicklung hin zu großen, glänzenden Firmenemblemen auf den Stirnseiten, um die Marken noch auseinander halten zu können - die Parallele zur Autoindustrie war für mich überdeutlich.
Vergleichbar sieht es auf dem Markt für dieselhydraulische Mittelführerstandsloks aus, wo ein erbitterter Kampf zwischen der Voith Gravita und der G-Serie von Vossloh zu erwarten ist.

An und aus, immer wieder an und aus: Start-Stopp-Automatiken bei Dieselfahrzeugen sind mittlerweile anscheinend de rigueur, sogar die GE Powerhaul, Nachfolgerin der technisch notorisch rustikalen Class 66, hat jetzt so etwas. Sinnvoll ist das auf jeden Fall - sogar Streckendieselloks stehen eine nicht unbeträchtliche Zeit ihres Lebens mit eingeschaltetem Motor herum, zum Beispiel vor Halt zeigenden Signalen; Rangierlokomotiven drehen sogar mehr oder minder ihr ganzes Leben Däumchen (siehe auch Prellblog 96). Warum man erst jetzt auf diese Idee kommt, weiß ich nicht genau. Ich vermute, dass es genau wie bei den entsprechenden Funktionen bei Autos mit verbesserter Anlassertechnik zu tun hat. Siemens bietet für seine neue Großdiesellok (siehe oben) optional sogar einen untergeschnallten Hilfsdiesel, der einen stehenden Zug weiter beatmen kann, ohne dass der Hauptmotor weiterlaufen muss.

Ostblockschönheiten: Kaum mehr übersehbar waren die Exponate von Herstellern jenseits des ehemaligen eisernen Vorhangs; wenn ich mich recht erinnere, waren allein drei Straßenbahnzüge und ein Doppelstockzug aus polnischer Fabrikation zu sehen, dazu IC-Wagen, ein Fernverkehrstriebzug, Güterwagen und eine Lokomotive aus Kroatien, eine Elektrolok aus Tschechien, eine Minirangierlok aus Bulgarien und vieles andere mehr. Der traditionell starke Schwermaschinenbau dieser Weltgegend reckt sein Haupt jedes Jahr höher, ein Grund zur Freude, wie ich meine.

Düsentrieb: Das im Bild dargestellte Fahrzeug, das sechs verschiedene hydraulische Arme in alle Richtungen von sich streckt, demonstriert gut, warum Spezialfahrzeugbau zwar faszinierend, aber letztlich doch etwas für Besessene ist. Die Leute bei der Firma Windhoff, die dieses Mehrzweckgefährt zur Wartung von Oberleitungen entworfen haben, würde ich gerne mal kennenlernen. Vergleichbar ingeniös finde ich das Spannwerk für Fahrleitungen mit integriertem Sensor von Siemens, das mutmaßlich aus einer Aktion entstanden ist, bei der ein Unternehmensbereich ein Produkt eines anderen auf den Tisch geworfen bekam und gefragt wurde, was er damit machen könne; die Kombination aus einem Schleifarm mit einem Dauermagneten und einem magnetostriktiven Fühler dient dazu, permanent an eine Zentrale zu melden, welche Spannung ein Fahrdrahtabschnitt hat, und ist auf einer spanischen Neubaustrecke tatsächlich schon im Einsatz.

Nächste Woche geht es weiter!

Bild: eigenes Foto

Montag, 20. September 2010

138: Marburch by Nature

Wenn es etwas dazu zu sagen gäbe, was ich nicht schon in dem zurückliegenden Dreiteiler und meinen anderen Artikeln zum Thema gesagt hätte, wäre das Thema für mich diese Woche selbstverständlich Stuttgart 21. Aber das Prellblog war schon immer gerne antizyklisch, und daher geht es heute in ungewohnt lokalpatriotischer Weise um einen ganz anderen, aber nicht minder lang hinausgeschobenen Bahnhofsumbau: Den des Marburger Hauptbahnhofs nämlich.

Wir haben ja alle schon nicht mehr daran geglaubt. Ich bin erst seit 2002 in dieser Stadt, aber schon damals hieß es, bald müsse es losgehen, und tatsächlich datieren beispielsweise die Planungen für den Umbau des Bahnhofsvorplatzes zurück bis 1996. Dass alles länger dauert als man denkt, ist zwar eine allgemeine bau- und verkehrspolitische Binsenweisheit, aber 14 Jahre sind für einen Bahnhofsvorplatz schon eine lange Zeit. Die Verzögerung für den Umbau des Bahnhofs selbst kann ich nicht beziffern, ich vermute, sie ist noch wesentlich länger. Nachdem sowohl für 2008 als auch für 2009 Baubeginne angekündigt und verschoben wurden, hat das Eisenbahnbundesamt wohl gerade erst die nötigen Genehmigungen erteilt, im November wird es einen Spatenstich geben und die eigentlichen Baumaßnahmen an der Verkehrsstation, also an den Bahnsteigen, ihrer Möblierung und ihren Zuwegungen, werden im Frühjahr 2011 beginnen. Bis dahin dürfte der Ausbau der Obergeschosse durch die städtische Wohnungsbaugesellschaft ganz oder nahezu abgeschlossen sein. Ich bin jetzt schon gespannt darauf, wie die Marburger Bevölkerung und in besonderem Maße der Teil der Marburger Bevölkerung, der sich auf den Kommentarseiten der »Oberhessischen Presse« verewigt, auf den Aufzugturm, der außen angebaut werden wird, reagiert - der Architekt Gerd Kaut, von dem man angesichts seiner derzeitigen Auftragslage einmal sagen können wird, dass niemand das Marburger Stadtbild nach der Jahrhundertwende so geprägt habe wie er, wird nämlich auch hier wieder die Buntglasflächen, die sein Markenzeichen sind, anbringen.
Derzeit kann man durch die leeren Höhlen der über zwei Etagen verlaufenden Fenster des Südflügels einen finsteren, entkernten Raum sehen, in dem anscheinend gerade Deckenträger platziert werden oder zumindest etwas, was so aussieht. Die Baugenehmigung für die großen Eingriffe in die denkmalgeschützte Bausubstanz ist mittlerweile erteilt; das Gebäude wird zwei zusätzliche Reihen Dachgauben bekommen, um die großen Mietflächen, die im Spitzboden entstehen sollen, zu belichten. Im Erdgeschoss baut die DB, und dort wird es dann irgendwann hoffentlich ein ordentliches Reisezentrum geben. Es ist wohl auch »Systemgastronomie« geplant und neue, schicke Flächen für den Blumenladen und die Bahnhofsbuchhandlung.

Wesentlich heftiger (auch und gerade für die Anwohner) werden die Eingriffe bei der Vorplatzgestaltung. Die Suche nach Kampfmitteln ist schon durchgeführt worden, und überall kündigen es neonfarbene Markierungen auf dem Asphalt an: Von dem, was heute Bahnhofstraße von der Hochtrasse der B3 bis zum Bahnhofsgebäude ist, bleibt nicht viel. Aus ihm wird ein verkehrsberuhigter Vorplatz, in den nur noch Busse einfahren dürfen. Eine speziell für die Bedürfnisse der in der Blindenstadt Marburg besonders zahlreichen Sehbehinderten ausgelegte zentrale Bushaltestelle in der Mitte werden die Busse gegen den Uhrzeigersinn umfahren. Ich vermute, dass entgegen den Trends der letzten Jahrzehnte keine avantgardistische Überdachung über dieser Haltestelle geplant ist, sondern lediglich Wartehäuschen. Der Autoverkehr wird durch die Ernst-Giller-Straße und Mauerstraße geleitet, und die Neue Kasseler Straße endet vor dem Bahnhof in einer Wendeschleife. Im Zuge dieser Maßnahme wird auch gleich ein breiter Fuß- und Radweg von der Unterführung unter dem nördlichen Gleisfeld zum Waldtal (»Jägertunnel«) zum Bahnhof gebaut, und nur einen Steinwurf davon entfernt wohne dann ja auch schon ich.
Man darf gespannt sein. So nah am eigenen Leib habe ich die Modernisierungsschübe von Eisenbahn und ÖPNV in diesem Land noch nicht erleben können.

Bild: Allie_Caulfield bei Flickr (Details und Lizenz)

Montag, 13. September 2010

137: Der Sprachtunnel (3/3)

Was kann man nun aus all dem lernen, außer vielleicht der vagen politischen Alltagsweisheit, dass sich das Publikum den Politikbetrieb dort zögerlich und verwaltend wünschen würde, wo er gerade technokratisch durchgreift, und umgekehrt? Außer der Trivialität, dass Fundamentalopposition meistens wirkungslos bleibt, schlimmstenfalls nach hinten losgeht, indem zum Beispiel eine Ablehnung jedes »Prestigeprojekts« verhindert, auf die doch hoch diskutable Priorisierung von Streckenbauten durch die Bundespolitik einzuwirken?
Ich könnte den Anlass nutzen, um unrealistische verkehrspolitische Forderungen aufzustellen, was eine beliebte Freizeitbeschäftigung in Deutschland ist. Ich könnte mich dabei dadurch inspirieren lassen, dass ich mich derzeit auf einer autofreien Insel aufhalte. Aber ich möchte mich grundsätzlich nicht als tausendster irrelevanter Verkehrsvisionär betätigen, auch wenn meine Forderungen im Gegensatz zu den üblichen Gepflogenheiten wahrscheinlich wenig plakativ wären und keinerlei Rufe nach irgendwelchen Bau- oder Planungsstopps für bereits Beschlossenes enthalten würden. In letzter Konsequenz wären es wohl eher medien-, bildungs- und verbändepolitische Forderungen.
Aber das soll eben nicht sein. Ich möchte statt dessen einige Ratschläge für Individuen aufschreiben, die daran interessiert sind, dass sich die Qualität der Meinungsbildung und Entscheidungsfindung in Eisenbahndingen hierzulande verbessert:

  • Freunde notfalls auch einmal langweilen. Ein nicht geführtes oder eingeschlafenes Gespräch über ein Eisenbahnthema ist besser als ein niveauloses oder faktenverwirrendes. Hohlphrasen zum Thema liefern Presse und Politik schon ausreichendermaßen.
  • Worthülsen identifizieren lernen und skeptischen Abstand von ihnen halten. Auf Grund der großen technischen und organisatorischen Komplexität des Themas ist wohl kein anderes so anfällig für ideologisch kodierte (»Börsengang«, »kaputtsparen«), emotional aufgeladene (»Abhängen ganzer Regionen«) oder schlicht unterinformierte (»Bundesbahn«, »ICE-Strecke«) Floskeln.
  • Sich gegen Komplexitätsreduktion stemmen. Differenzieren: zwischen DB und Eisenbahn, zwischen DB und Verkehrsministerium, zwischen Nah- und Fernverkehr, zwischen Bund und Land, zwischen Bestellern und Betreibern.
  • Der Versuchung widerstehen, Bauprojekte nach der Spektakularität der Ingenieurleistungen oder nach den Kostenschätzungen zu klassifizieren. Unser politisch-bürokratischer Apparat tut sich nicht leichter damit, billige Projekte zu bewilligen als teure, und das Verhältnis zwischen Kosten und Verkehrsnutzen ist häufig je nach Gutachter variabel, immer aber diskutabel.
  • Akteure kennen lernen. Die Beschäftigung mit der Eisenbahn ist zivilgesellschaftlich eine Nischenangelegenheit, die Übergänge zu den Milieus von Modellbahnvereinen und Dampflokfotografen sind auch bei organisierten Interessenvertretungen und Fachmedien oft fließend. Eine kurze Internetrecherche kann oft zu überraschenden Ergebnissen führen.
  • Die Eisenbahn als einzigartigen und eigenständigen Verkehrsträger mit eigenem Angebot und selbstgenerierter Nachfrage sehen statt nur als ein »Komplementärverkehrsmittel«, das ausschließlich »Entlastungsfunktionen« hat und dessen Fahrgäste und Frachtgut »normalerweise« mit Flugzeug oder Kfz unterwegs wären.

Das Prellblog wird den Stil des Eisenbahn-Geredes nicht ändern können; aber vielleicht kann es dem oder der einen oder anderen aus dem Sprachtunnel heraushelfen; wer weiß?
Juist, 24. August 2010

Bild: »Hagar66« bei Wikimedia Commons (Details und Rechtefreigabe)

Montag, 6. September 2010

136: Der Sprachtunnel (2/3)

Am Beispiel der Debatten zu Straßenprojekten wie der Dresdner Waldschlösschenbrücke oder dem Hochmoselübergang, aber auch an jedem beliebigen Meinungsaustausch zu Gemeindestraßenprojekten in einer Lokalzeitung ist erkennbar, dass nicht eine Heftigkeit des Tons, auch nicht die apokalyptischen Szenarien, mit denen gearbeitet wird, das Alleinstellungsmerkmal der Bahndiskurse ist, sondern diese spezielle, klischierte, leerdrehende Sprache, die absurderweise auch mehr mit Chiffren aus dem Wortfeld Straßenverkehr operiert als es in der konkreten Kritik an Straßenprojekten sichtbar ist: von »Autowahn«, »Betonpolitik« et cetera ist hauptsächlich in Texten zur Netzentwicklung der Eisenbahn die Rede; vielleicht auch, weil die bis hin zu verschwörungstheoretischen Extremformen hin verbreitete Gesinnung, die Deutsche Bahn sei eine Marionette einer vage definierten »Autolobby«, zumindest halbbewusst in den Tiefgrund der Diskussion eingegangen ist.
Die Konsequenz scheint mir zu sein, dass sich über kurz oder lang die bei gewissen »Eisenbahnfreunden« schon seit Jahrzehnten verbreitete Minimalthese als einzig öffentlich kommunizierbare Haltung zum Eisenbahnwesen durchsetzen wird - nämlich die, dass keinerlei »geldverschwenderische« »Prestigeprojekte« mehr nötig seien, die ja ohnehin nur Profilierung einer auf »den Börsengang« erpichten Bahn seien (wobei gerade die privatisierte DB Großprojekten durchaus skeptischer gegenübersteht als die frühere Bundesbahn); statt dessen sei nur ein schonender, niemandes Interesse verletzender Ausbau des bestehenden Netzes nötig, um »den Verkehrsinfarkt« (Prellblog 70) zu verhindern.
Dabei ist gleichzeitig klar, dass »schonende Ausbauten« nicht ausreichen können. Selbst beim Verzicht auf jegliche Neubaustrecke, auf jegliche Erhöhung von Fahrgeschwindigkeiten, wären die dritten und vierten Gleise, die man dann an Bestandsstrecken anbauen müsste, um allein den Zuwachs des Güterverkehrs aufzunehmen, mit ihren Dammverbreiterungen, Schallschutzwällen, Einschnitten, neuen Unterführungen, Bahnstromtrassen und Umspannwerken riesige Eingriffe mit mindestens ebenso viel Protestpotenzial wie jede Neubaustrecke.
Wenn meine Hypothesen zum Zustand der Eisenbahndiskurse in Deutschland richtig sind, müsste sich dies denn auch an den Reaktionen auf Ausbauprojekte, die der Bewältigung des zunehmenden Güterverkehrs dienen und denen keinerlei Charakter von »Prestigeprojekten« unterstellt werden kann, ablesen lassen. So wird es spannend zu beobachten sein, wie das Publikum beispielsweise mit dem dreigleisigen Ausbau der Gütermagistrale zur niederländischen Grenze umgeht, mit der Eintunnelung der Rheinstrecke in Rüdesheim oder, falls er je kommt, mit dem Bau einer Güterentlastungsstrecke diagonal durch Rheinland-Pfalz.
Die Vorstellung vom »schonenden Ausbau», davon also, dass man grundlegende Verbesserungen der Verhältnisse durch eine Vielzahl kleiner und kleinster Eingriffe erreichen könne, die weder je einzeln noch in der Summe irgend jemandem wehtun, ist nun keine, die es nur im Zusammenhang mit dem Eisenbahnverkehr gäbe. In anderen politischen Bereichen scheint dieses Ideal längst handlungsleitend, so beispielsweise im Renten- und Gesundheitswesen. Spiegelbildlich zum Zustand des Eisenbahndiskurses fordert auf diesen Terrains die etablierte Meinung beständig durchgreifende, »schmerzhafte Reformen« (was das Politikmarketing mittlerweile dahin gebracht hat, jedes Nachjustieren, wie es systemimmanent andauernd notwendig ist, zur Gesundheits- oder Rentenreform zu deklarieren, und dem Betrieb dieser Sektoren der staatlichen Daseinsfürsorge damit jeden Anschein von Stabilität oder Beständigkeit zu nehmen); »schmerzhafte Reformen«, wie sie im Eisenbahnverkehr in Gestalt immer neuer Reorganisationen des Betriebs und seiner Rahmenbedingungen, immer neuer milliardenschwerer Bauprogramme, Masterpläne und Sparpakete alltäglich sind.
(Der 3. und letzte Teil folgt am 13. September)


Bild: unbekannter Illustrator um 1840, via Wikimedia Commons (Details und Rechtefreigabe)